Von der Zumutung und der Zumutbarkeit des Disputs
Die Erkenntnis großer eigener Eitelkeit ist kein hinreichender Grund dafür, anderen von Dingen zu schweigen, die ihnen vielleicht von Nutzen sein könnten – genauso wenig, wie angeborene Faulheit.
Kommunikation besteht wesentlich aus einer fortgesetzten Folge von behaupteten oder tatsächlichen gegenseitigen Zumutungen. Sie kann, wie parallele Geraden, unter Umständen erst im Unendlichen ihren Schnittpunkt finden. Dafür bedarf es auf beiden Seiten der Ausdauer, des Muts und der Ehrlichkeit.
Oft, wenn wir den Eindruck gewonnen haben, ein Gespräch sei zu einem Konsens gekommen, entweder dem der Annäherung oder dem des mühelosen Beharrens auf der jeweiligen eigenen Position, entsteht ein Glücksgefühl, das einem nicht wiederholbar erscheint, und eine explolsionsartigen Entladung der Empathiefähigkeit nach sich zieht. Dieses Glücksgefühl ist nun gar kein Hinweis auf den wirklichen Grad der Übereinstimmung, die sich während der Dauer der Kommunikation manchmal erst einstellt, und manchmal nach und nach abhanden zu kommen scheint .
Es kommt darauf an, die gegenseitigen Zumutungen zu erkennen, zu bewerten und unter allen Umständen im Gleichgewicht zu halten. Es kommt darauf an, durch Achtsamkeit selbst zum Gelingen der Kommunikation beizutragen.
Der Schwertkampf, wie er von Zenmeistern beschrieben wird, ist ebenso eine gelungene Kommunikation, wie die Übung im Disputs der chassidischen oder der muslimischen Religionsschüler, oder buddhistischer Mönchsanwärter verschiedener Traditionen. Auch die Schulung in dialektischer Argumentation gehört hier her. Der dialektische Materialismus hat in seiner staatstheoretischen Anwendung allerdings die Dummheit begangen, lediglich Recht behalten zu wollen. Das Muster dieser Verfehlung führt, wen erstaunt es, bei Ideologien wie Religionen zu den gleichen unangenehmen Nebenerscheinungen: Verständnislosigkeit, Hass und Verlust der Empatiefähigkeit.
Wie auch immer, den Intellekt am anderen zu schärfen und ihm aber gleichzeitig das selbst zugestandene Recht einräumen, sich seines eigenen Standpunktes erneut zu vergewissern, sollte wieder Standard werden. Sicher gibt es von Natur aus unterschiedliche Begabungen in dieser Disziplin. Entscheidender, als die Begabung, ist jedoch das lebendige Wesen der Auseinandersetzung selbst: während man übt, wächst die Erkenntnis, dass die Zumutungen in der Balance zu halten, erst den eigenen Nutzen von der Verschiedenheit der Standpunkte hervorbringt. Und wir täten gut daran, diese Lektion unausgesetzt zu repetieren.
Um dazu in der Lage zu bleiben, empfielt es sich die Endlichkeit der Auseinandersetzung zu betrachten, auch, dass diese bedeutungslos bliebe, ohne unsere Reflexion darüber. Das macht uns zum Garanten eines an Entdeckungen gewinnenden Disputs.