Können sie mit Fischbesteck essen?

Joachim ist mager und vermeint, die ihn anschauen, möchten sich gern schnell wieder umdrehen, als ob sie fürchteten, Joachim neige zur Epilepsie.

Joachim verliert die Nerven bei der nächstbesten Gelegenheit. Gerade setzt er sich in Regensburg an einen Tisch im traditionsreichen Café Rösch, gleich gegenüber dem Hertie- Kaufhaus im Sechzigerjahrestil. Sofort fängt er an zu sinnieren, das macht ihn meistens ruhig. Lenkt aber etwas besonders Lautes seine Sinne von sich selbst ab, ist er augenblicklich  vollkommen aus sich draußen, und es kommt ihm dann immer vor, als sei alles regelrecht zu viel.

Jetzt bestellt er Kaffee und Kuchen. Und während er noch denkt, dass man den Kaffee hier auf jeden Fall französisch schreiben muss, platziert die freundliche ältere Bedienung schon das stark aromatische Getränk, welches gelassen in einer altmodischen Kaffeetasse schwimmt,  mit einem eleganten Schwenk direkt unterhalb seines Riechorgans auf dem runden Kaffeehaustisch. Die Linke der Alten kredenzt alsbald den kleinen Schnörkelteller mit der bestellten Torte, ein wahres Sahnetortengebirgsmassiv.

Das ging aber fix. Joachim kommt wieder zu sich, indem er grübelt, ob prompte Bedienung in seinem Fall, zu dieser Zeit, an diesem Ort und unter diesen Umständen eher  Zu- oder Abneigung bedeute. Wie ängstlich er mit der Kuchengabel stochert, minutiös bemüht, auf dem für alle Gäste sichtbaren Schnörkelteller keine Schlammorgie zu offenbaren und vor allem nicht sich und seine für Außenstehende gewiss unerklärliche Unsicherheit und seinen schönen einsamen Morgentraum von einer Massensexorgie. Mund, lutschen, saugen, nippen, lecken… Immer das Gleichgewicht behalten zwischen den Bewegungen, die die Hand vollführt und dem Genuss der süßen Torte, die ihm mundet, wie er sagen möchte. Niemand wird bemerken, dass er gerne einmal eine Orgie veranstalten würde. Kein Mensch ahnt etwas von Joachims Brünstigkeit.

Fragen ihn seine Freunde, wann und wie er glücklich ist, antwortet er: Nur sekundenweis, wenn ich die Last meiner Eigenheit nicht mehr spüre.

Joachim liebt trotz alledem die Öffentlichkeit. Schon weil er hofft, irgendwer würde  ohne ersichtlichen Grund auf ihn, ja ihn zukommen,  und erklären, warum er, Joachim, einen sympathischen Eindruck mache. Nicht allein dass, nein warum! Hoffentlich bemerkt nur niemand, wie die Angst vor bösen Blicken, die vom Nebentisch der alten Tanten zu Joachim herüber kriecht, ihn derart getroffen hat.  Im nächsten Augenblick wird er den Zuckerstreuer (in wirklich vornehmen Cafés gibt es Würfelzucker)  in einem Anfall galanten Getues geschickt abstellen wollen, durchzuckt es ihn, und dabei das sachlich geschnörkelte Kaffeeportionskännchen absichtlich und kraftvoll vom Tisch fegen.
Da lässt er das mit dem Zuckerstreuer lieber, und nimmt sich vor, alle galanten Gesten auf immer aus seinem Caféhausbewegungsrepertoire zu verbannen.

Können sie mit Fischbesteck essen?

Er könnte. Aber muss man nicht ruhig bleiben, damit einem kein Fehler unterläuft? Die Damen hinter der Kuchentheke im vornehmen Café Rösch intonieren à capella, etwas atonal, wie in einer modernen Oper vielleicht, jedoch im Chor, den Abschiedsgruß für einen Gast, der Sahne geschwollenen Leibes die Traditionsräumlichkeit verlässt. Man kann, denkt Joachim, niemals wieder gut machen, was man einmal einem  Fremden gegenüber vermasselt hat, wenn dieser fremd bleibt. Man müsste ihn folglich kennen lernen, sich entschuldigen für unverschuldetes Missgeschick. Ja diese Missgeschicke sind es, die uns für immer anhaften, wenn wir im entscheidenden Augenblick nicht handeln. Entschuldigen sie, hört er sich sagen, sie schauen mich ja an, als sei ich ein Scheckkartenbetrüger. Das kann aber nicht sein, denn ich besitze zwar  ein Postgirokonto, aber ich versichere ihnen, ich besitze weder Schecks noch eine Scheckkarte. Weder eigenes noch gestohlenes Fremdes, derartiges besitze ich. Ich besitze nicht einmal einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Mein Fahrrad ist von mir vor Jahren schon gebraucht gekauft worden. Ich putze es, dann hält es länger. Mann soll, meine Damen, die Dinge pflegen, die einem am Herz liegen. Und mein Fahrrad liegt mir, wenn ich so sagen darf, gewissermaßen sehr am Herzen, da ich es brauche. Ja, ich benütze es tatsächlich täglich.

Und es war gut. Joachim schaute auf die Damen am Nebentisch, als hätte er tatsächlich einen fulminanten öffentlichen  Caféhausauftritt hinter sich. Aber er hatte in Wahrheit nur mit den Augen geredet. Derweil nun Joachim seine stumme Rede gehalten hatte blätterte eine der Damen oberflächlich in den Damenseiten eines bekannten Journals. „Der Karl Heinz Böhm“, kommentiert sie jetzt, „um den wird ein Rummel gemacht mit dem seine Neger.“  Joachim stand schnell auf und zahlte an der Kuchentheke.

Erstveröffentlichung 1989