Graumanns Gespür für Feuer

Belgrad liegt auf der anderen Straßenseite

„Hergottle“, rutschte es dem in Böblingen aufgewachsenen stattlichen Mann heraus. Er maß einsdreiundachtzig, war sportlich und schlank. Doch das konnte man nicht genau entscheiden, wenn man ihn so sah, wie er eingepackt in die Einzelteile seiner farblich schlecht abgestimmten Winterfunktionskleidung, einen Berliner Gehsteig vom Schnee befreite. Sein Haar war voll, und an einigen Stelle schimmerte schon ein wenig Silber darin. Das passte hervorragend zum Schnee. Er war der neue Hausmeister von nebenan. Warum trug er keine Kopfbedeckung?Graumann verließ das Haus um viertel vor sechs. Eine idiotische Zeit. Doch das Prozedere von Aufwachen über Frühstücken bis Losgehen war so eingetacktet, dass er keine Sekunde früher und keine Sekunde später gehen brauchte, um den Kollegen der Nachtschicht noch pünktlich zu den Sechsuhrnachrichten abzulösen.Aber er hatte den Schnee nicht bedacht und nicht die erbärmliche Kälte. Graumann trug einen Hut und einen dicken wärmenden Schal, die jedoch beide nicht verhindern würden, dass sein Mundwerk, bis zum Sender taub und lahm wird. Vor der Tür den langen Schal, der doppelt um den Hals gewickelt war, um das empfindliche Sprechorgan zu schützen, und mit einem Teil der aus Pakistan stammenden Textilie bedeckte er nun Mund und Backen damit sie warm blieben. Es schneite immer noch. Dicke Flocken ohne Geschmack. Graumann hatte die Zähne geputzt und dann die erste Zigarette geraucht, bevor er aus dem Haus gegangen war – auch das ein Morgenritual, denn die Zigaretten schmeckten ihm seit ein paar Tagen nicht mehr. Das war immer ein sicheres Zeichen für eine herannahende Krankheit. Aber freie Mitarbeiter werden nicht krank.Die Luft roch angenehm, die Kälte war trocken und machte munter. Manchmal ist das frühe Aufstehen schön. „Guten Morgen“ grüßte er zu dem Hausmeister aus dem Nebenhaus hinüber, der kurz von seiner Schneeschipperei aufsah, ihm einen mürrischen Blick zuwarf und seinen Gruß nicht zu erwiedern schien. Na gut, dachte Graumann, der Mann trägt keine Kopfbedeckung, sein Mundwerk wird wohl eingefroren sein und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Dann stapfte er, so rasch es die schweren bayerischen Bergstiefel an seinen Füßen zuließen, Richtung U-Bahn. Der Zug fuhr ein, als er den Bahnsteig erreicht hatte. Innen niesten und husteten zwei bekannte Frauengesichter, die er öfters auf dem Weg zur Frühschicht traf, und ein pausbäckiger Schornsteiger leistete ihnen stehend Gesellschaft. Er nestelte an seinem Zylinder herum. Wann habe ich das letzte mal einen Schornsteinfegen in der U-Bahn Richtung Ruhleben gesehen, dachte Graumann. Wahrscheinlich noch zu Schulzeiten.

Die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern, sahen nicht weniger pausbäckig aus, als der Mann mit dem Zylinderhut. Sie tuschelte miteinander und kicherten leise über den Kopfputz des Kaminkehrers, den dieser, um den Blicken der Damen nicht begegnen zu müssen, keck in die Stirn gezogen hatte. Wie lange werden die drei schon so beisammen sein, fragt sich Graumann. Seit Wittenbergplatz oder womöglich seit Gleisdreieck? Graumann war so beschäftigt mit der Szenerie, dass er fast vergessen hätte am Theo auszusteigen. Als er es dann getan hatte, wunderte er sich nicht wenig, als der schwarze Mann ihm durch die sich bereits schließenden Wangontüren nachrief: „Tschüß Franz!“

Schon fuhr die U-Bahn weiter und Graumann sah wieder auf die Armbanduhr, eine Swatch der ersten Generation, die ihm einmal den Schwarzmitschnitt eines Opernabends in der Bayerischen Staatsoper verdorben hatte, weil er das Handgelenk zu dicht an der Aufnahmekapsel seines Walkmans gehalten hatte. Noch vier Minuten bis zur Sendung. B. wird schäumen und einen Spruch anbringen. Wenn die Sendung vorbei ist, wird er immer noch mit der Aufnahmeleiterin Süßholz raspeln. Nach der Nachtschicht regen sich die Gefühle und verheddern sich schließlich in einem extrem unnatürlichen Wachzustand, wie auf Speed.

Graumann musste B., der schon am Mikrofon saß, aus dem gläsernen Studio schicken. Zeitzeichen drücken, was eigentlich verpönt war, Nachgrichtenjingle abfahren, Mikroregler hochziehen, Kollege B. wartete bis es sich lohnte und knallte die gläserne Studiotür zu. So wusste jeder in der oberen Redaktionsetage: Graumann hat das Glashaus durch den verbotenen Paterreeingang und auf den letzten Drücker betreten.

Die Glut, Foto: 2004 © Wolfram Haack, AQ!

„Verheerende Schneestürme fordern weitere Opfer an der Westküste der USA.“ Seit wann fordern Naturgewalten irgend ein Opfer? Ist das hier eine Aufführung von Stravinskys unbekannter Ballettmusik „das Schneeopfer“, fragte sich Grauman, während er weiterlas und die Systemüberschrift der letzten Meldung erblickte: „Großeinsatz der Berliner Feuerwehr in Charlottenburg“ Mein Gott, habe ich die Kerzen vorhin zuhause wirklich ausgemacht? „Bundesaußenminister Joschka Fischer hat die Natoluftschläge gegen Serbien verteidigt.“ Wie kann man in diesem Zusammenhang nur das Verb „verteidigen“ benutzen? Wenn sich da einer verteidigt, dann wohl gerade die Serben gegen die „Natoluftschläge“, oh Gott, warum sagen sie nicht, dass sie Belgrad bombardieren, dass sie angreifen, dass sie Krieg führen? „Im Schalgabtausch um die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zeichnet sich ein Kompromiss mit der Union ab.“

Was für einen blöden Stuss puste ich hier in die schöne Morgenluft, fragte sich Graumann. Das Wetter und so weiter, Verkehrsservice, Jingleregler, Mikroregler, Haedset vom Kopf. (Kollege B. schwitzt immer so an den Ohren.) Und jetzt quatscht er immer noch mit der Aufnahmeleiterin draußen. „Na Graumann? eins von den 50 Bierchen gestern war wohl schlecht, was?“ Blöder Idiot, denkt Graumann und grinst die Aufnahmeleiterin breit an, die zu tun hat und B. loswerden will. „Ne, Du weißt doch, dass ich nur noch kookse“, pariert Graumann. „Könntet ihr diese Unterhaltung bitte im ersten Stock oder vor der Tür fortsetzen, ich kann so nicht arbeiten,“ sagt die Aufnahmeleiterin plötzlich sehr resolut. B. hat seine Jacke endlich zuende zugeknöpft und klettert die Treppe in den ersten Stock hoch, wo er nochmals zehn Minuten um die Redakteursfrauen schwadroniert, bis eine endlich fragt: „Sagmal, hattest Du nicht schon vor einer halben Stunde Feierabend? Und die CVDeuse schickt hinterher: Und nächstesmal nicht so die Tür zuknallen während der Sendung, ja?“

„Hergottle, Hergottle, wer tut denn aber sowas?“ Der große, stattliche Mann wirkt erschöpft, und ein paar Tränchen kullern ihm die blassroten Wangen hinunter. Der freischaffende Sensationreporter hat alles im Kasten und wendet sich ohne dem Hausmeister zu danken, zum Einsatzleiter der Polizei, der ihm fünf Minuten zuvor noch gedroht hatte.

Aus dem Haus gegenüber tragen Bestattungunternehmer ein unförmiges Kunststoffbehältniss, in dem ein Toter liegt. Es ist der kiezbekannte Trinker R. Irgendwann gegen halbvier hatte er es geschafft, in den dritten Stock bis zu seiner Wohnungstür zu kriechen. Mit übermenschlicher Anstrengung hatte er dann den richtigen Schlüssel am Schlüssebund ins Schloss bekommen, die Tür aber von innen nicht ganz zugekriegt – in der Küche wollte er sich aufrichteten, riss beim Festhalten das lose Rohr des Gasherds aus der Wand und stürzte zu Boden und in einen tiefen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen sollte.

Der Goße Schwabe steht immer noch auf der falschen Seite der Straße und flennt. „Schippen sie mal lieber wieder Schnee da drüben, herrscht ihn ein Beamter an, der die Menschenansammlung vor dem Unglückshaus aufzulösen versucht.

Graumann hatte seine Kerzen ausgepustet. Und die Gasexplosion war noch rechtzeitig verhindert worden, im Haus auf der anderen Straßenseite. Aber drückend kann die Stimmung werden, wenn du aus dem Glashaus am Theo den Großeinsatz der Feuerwehr in deiner eigenen Straße äußerlich ungerührt in den Äther pustest, während die Nato Belgrad bombardiert. Und woher kenne ich diesen Schornsteinfeger, grübelte Graumann.