Die echte Alternative zur Beamtenstippe

Ich weiß noch, wie Mutti sagte: „Aber warum denn essen gehen, das kostet doch nur unnötig Geld.“ Nein, eigentlich sagte sie nicht „warum“, sondern „wozu“, in der Art der Kleinstädterin, deren Mutter noch eine havelländische Landpomeranze war.

Mark Brandenburg, Streusandkammer. – Ihr kennt doch bestimmt solche kulinarischen Höhepunkte der Streusandküche wie Beamtenstippe: da ist immerhin Fleisch drin, und dann macht man mit Margarine und Mehl eine so genannte eingebrannte Stippe, die mit Zucker und Essig verfeinert wird. Das Ganze gebe man über den obligaten alltäglichen Kartoffelbrei …Gedeckter Tisch, 2004, Foto: AQ!

Und jetzt Essen gehen, Pizza! So ein Kulturschock: heißes Gemüse, gegarte Dauerwurst und Dinger, die wie Paprikaschoten aussehen, an denen man sich aber leicht das Maul verbrennt, weil sie so scharf sind. Peperoni, höllische Pfefferdinger – Gemüse auf Hefeteig – „den haben sie aber nicht gut gemacht, der ist ja völlig verbrannt am Rand“, sagt Mutter fachfraulich. „Ob man sich daran gewöhnen kann“, und sie meint nicht man, sondern sich und kann sich das durchaus vorstellen, sich an Pizza zu gewöhnen, wenn sie ihr einmal im Monat dampfend und fertig serviert wird, will aber erst abwarten, was Vati sagt – und der sagt: „Also, mia schmecktit.“ Heißer Hefekuchen, nur statt mit Obst mit Fleisch und Gemüse, denke ich.

So bürgerte es sich ein, dass man zum Italiener ging, auch damit Vati zeigen konnte, dass wir uns das auch leisten konnten. Befreundete Ehepaare saßen beim Italiener vertraut beieinander und erzählten sich was. Die Männer, welches Automobil es denn sein möchte im nächsten Jahr, und die Frauen redeten sehr bestimmt über die Urlaubsreise, die man dann im übernächsten Jahr machen könne, wenn die Raten für dies und das abbezahlt worden sein würden. Kurz, es wurde ständig über Geld geredet.Espresso, 2005, Foto:AQ! Und Luigi aus Sizilien, den ich immer fragen wollte, ob er mich nicht an die Mafia verkaufen möchte, damit ich mal zum Stromboli komme, brachte Grappa um Grappa, und die Erwachsenen wurden erträglicher, kümmerten sich nicht mehr darum, ob wir vom Tisch aufstehen dürfen und warum – und wir, meine Kinderfreundin Petra und ich, fragten uns, ob wir nicht vielleicht in Wirklichkeit Bruder und Schwester wären – aber wir wollten trotzdem später heiraten und tobten mit den Kindern von Luigi solange unter dem Stromboli aus Gips, der ein rot glühender Elektrogrill war, bis irgend etwas zu Bruch ging. Dann kam ein lauter Anschnauzer von Vati oder Petras Vati, und dann tobten wir weiter, bis Luigis Kinder „in Bette mussen“ ein letzter Grappa, und wir zogen Mutti und Vati hinter uns her, jeder in die Anderthalbzimmerwohnung, wo es schon mal vorkommen konnte, dass es am nächsten Tag die aufgewärmte Beamtenstippe von vorgestern gab.

Erstveröffentlichung Juli 2008