Achtung: Diese Geschichte ist möglicherweise zu sentimental für Ihren Geschmack!
Mein Freund Abrahamowsky ist, soweit ich das beurteilen kann, ein echtes Genie. Wahrscheinlich ist er sogar noch etwas genialer. Denn im Gegensatz zu Wittgenstein, baut er seine Sätze so klug, daß sich niemand genötigt fühlt sie mitzuschreiben. Und ganz anders, als der wirklich geniale John Gould, macht er sich keine Mühe, seine Gedanken in irgendwelche alten Schulhefte zu kritzeln – womöglich noch auf angegilbtes liniertes oder kariertes Papier. Er bringt sie einfach unter die Leute. Als durch die Umstände seiner Ostherkunft selbst legitimierter Opportunist begann er gleich nach der Wende eine bisher ungebremste Vortragsreisetätigkeit durch die verschiedenartigsten Lokalitäten der ehemals so genannten Westbezirke Berlins. Er selbst ist in Bayern geboren, im sächsischen Görlitz auf die stattliche Größe von einen Meter zweiundsiebzig aufgeschossen, und zog deswegen fortan die Großstadt, besonders aber jenes Berlin vor, welches es heute so nicht mehr gibt und das ihm lange vor dem Mauerfall trotz oder wegen seiner Schnodderigkeit, ein effizienteres Wirkungsfeld zu bieten schien. In Görlitz hätte man ihn, wie er oft fast nebenbei in seine druckreife Rede einfließen läßt, höchstens einsneunundsechzig werden lassen. Zwei Dialekte gewöhnte er sich nacheinader ab, bediente sich jedoch hin und wieder plötzlich ihrer Eigenarten.
Ich entsinne mich einer für seinen freimütigen Stil höchst exemplarischen Debatte, die sich nur zum Teil in Folge eines Vortrags mit dem Titel: „Brauchen wir am Mittwoch eine Flirtakademie in Tempelhof?“ daselbst entspann. Eigentlich kam er erst zum Schluß der Rede, die man nichts desto trotz flammend nennen muß, auf das Motto, unter der diese von Anfang an hätte gestanden haben müssen: „Theorie der humanen Verständigung schlechthin“
Ob noch in Tempelhof oder gerade schon in Kreuzberg jedenfalls im Hinterzimmer der beliebten Lokalität „bei Horst und Rita“, nahe der Berliner Hauptgeschäftsstelle der Gewerkschaft IG-Medien, tagte an jedem ersten Mittwoch im Monat der Vorstand des Kegelclubs Tempelhof von 1860 e.V. Abrahamowsky, dem die von Stammgästen stets als zugeknöpft titulierte Wirtin für seinen Wortwitz sehr bald eine gewisse Achtung und etwa vier Körnchen entgegenbrachte, begab sich – so splendid behandelt – jetzt geistig beflügelt, zu den im Hinterzimmer tagenden Herren. Lautstark und emotional geladen, erörterte man den an sich nur noch zum Abnicken vorgesehenen Kassenrevisionsbericht für das unlängst zu Ende gegangene Jahr. Draußen gab das im Laufe des letzten Schnee-Einbruchs zu kleinen Hügeln aufgetürmte Gemenge, wegen des Tauwetters nun elend schmutzig und grau gewordene Eisberge, die vor vier Wochen geschissenen Hundehaufen wieder her. Die Herren, die sich drinnen wohl auch deshalb so laut unterhielten, weil ihre Blicke nur noch schwer durch die von Weinbrandfahnen vernebelte und vom Rauch billiger Burgerstumpen zusätzlich getrübte, warme dicke Luft drangen, bemerkten Abrahamowsky erst spät. Ihm gefiel die Vorstellung, erinnerte sie ihn doch an seine vertanen Tage. Sobald er, wie alle natürlichen Redetalente vom Bauch her den Zeitpunkt gekommen fühlte, sein angenehmes Stimmorgan zu bemühen, setzte er mezzoforte und sehr schön legato eine erhabene Fermate in das allgemeine Gezeter.
Die hitzige Kassenrevisiondebatte verstummte für den Bruchteil einer Sekunde. Und das kommt einer halben Ewigkeit gleich, im Berliner Vereinsleben, wo man viel reden muß, um sich hinterher zuhause darüber bitter beschweren zu dürfen, das immer nur geredet wird und nie gehandelt, „ich muß schon sehr bitten, meine Herren,“ begann Abrahamowsky den einleitenden Abschnitt seiner Rede, die durch diese Wendung und das erstaunte Aufhorchen der Versammlung schon beinahe ihre volle Form und Gestalt annahm. Wenn es die Lage erforderte, konnte er sich blitzschnell einsingen. „Ich muß doch wirklich sehr bitten,“ fuhr er fort, und bemerkte durch den dichten Qualm nun erst die einzige Dame in dem Versammlungsraum, welche ihm dankbar zunickte. „Wirklich“, lispelte sie halblaut und mit Rücksicht auf ihr Herzleiden, nicht zuletzt in Anbetracht aber des langsam wieder anschwellenden Geräuschpegels, „dieses Rumgebrülle schadet meiner Gesundheit.“
Der Tempelhofer, den Abrahamowsky, von Beginn seines Hinterzimmerbesuchs an, für einen Kassenwart gehalten hatte, entpuppte sich nun auch als solcher, in dem er meinem Freund vorhielt, daß dieser nicht einmal seine Mitgliedsbeiträge gezahlt und in sofern und als einfaches Mitglied schon sowieso, kein Recht habe, ihn formell nicht entlasten zu wollen. Die übrigen Herren des Vorstands beeilten sich ihm beizupflichten, ohne das vermeintlich einfache Mitglied auch nur nach dessen Namen zu fragen. Sie machten sich keine Vorstellung was sie erwarten würde. Sofort ergriff das scheinbare Mitglied wieder das Wort, ohne den geringsten Augenschein irgendeiner Eingeschüchtertheit. „Sie können mir glauben, werte Versammlung, bei einem solchen Streit, und ich habe schon viel debattiert in meinem Leben, hilft nur eine ordentliche, eine zivilisierte und damit satzungsgemäße Streitkultur!“ Das klang gut und versetzte die herzkranke Dame in helles Entzücken, das ihr zusammen mit einem zu Herzen gehenden tiefen Seufzer nebst einem trockenen Furz entwich. Wie bestätigend fuhr Abrahamowsky fort: für solche dificilen Momente habe die preußische Vernunft doch schließlich dem deutschen Vereinswesen die Vereinssatzung gestiftet. Woanders kenne man eine solche gar nicht, oder habe sie seines Wissens zumindest noch niemals konsequent angewendet, warum ja auch beispielsweise das parlamentarische System in Italien, für alle Zeit hoffnungslos verloren sei, auch wenn man uns! selbstverständlich in den Medien etwas anderes vortäusche. Was im übrigen glasklar erkenne, wer einmal in Rom oder Palermo versucht habe, am Steuer seines deutschen Autos irgendwie vorwärts zu kommen. Mein Freund hatte offenbar den richtigen Ton getroffen, obwohl er keinen Führerschein besaß.
Einen solchen Mann, dessen Intelligenz schon äußerlich nicht die Bohne anzuzweifelnden war, der praktische Bildung und einen mitreißenden Führungsstil miteinander zu verbinden wußte, wünschte sich die Dame für die Vorstandswahl als Kandidaten. Ein Kegel, den nichts so schnell umhaut, dachte sie. Seit Jahren war etwas derartiges, auch nur entfernt, nicht in Aussicht gewesen. Und nun stand dieses Muster an Durchsetzungskraft, charmanter Mannhaftigkeit und praktischem Verstand plötzlich kanppe drei Meter von ihr entfernt im Raum, als sei er geradewegs vom Himmel entsandt, ihr armes Herz zu retten. Der Blick der Abrahamowsky traf, schien ebenfalls nicht von dieser Welt.
Beherzt, der vollen Aufmerksamkeit nun auch der Männer völlig sicher, griff er seinen Gedanken über die preußische Vernunft, den er nun „die dem Preußentum immanente Vernunft,“ nannte und entwickelte ihn aus dem Stehgreif zu einer „Theorie der humanen Verständigung schlechthin“. Er räumte ein, das der Geist, welcher die Vernunft in Preußen habe Fuß fassen lassen, mindestens die starke Hand eines alten Fritz gebraucht habe, um in die allgemeinen Vorstellung zu dringen. Worauf der erste und der zweite Vorsitzende zaghaft applaudierten und der Kassenwart, weil er Voltaire nicht kannte, einwarf, Vernunft sei, wenn man trotzdem lacht. Unbeirrt hiervon, ja im deduktiven Aufbau seiner Konzeption noch bestärkt, erhob Abrahamowsky abermals die Stimme, deren Ausdruck für diesmal nicht nur rhythmisch sondern feinmelodisch nuancierend. Sichtlich zufrieden mit der euphorisierenden Wirkung seiner mittelmäßigen Hypothese, überzeugt davon, er hätte auch ohne Mitgliedskarte sofort mit Erfolg Vorstandsneuwahlen verlangen können beim Kegelclub Tempelhof von 1860 e.V., übermannte ihn ein gewalttätiger Appetit auf etwas Deftiges. Wie gerufen kam da Rita mit der nächsten Runde Bier und Korn. Doch weil es nur Aldiwiener mit Aldikartoffelsalat gab, machte er mir flink ein Zeichen zum Verschwinden, und wir verschwanden und brachen in ein heiteres Gelächter aus. „Laß uns irgendwo in 61 einen Hühnchenfleischdöner mampfen. Ich stehe auf Hühnchenfleischdöner,“ säuselte er verträumt. Ja, ja, ja, lange ist’s her. Sehr lange!