Weltumspannende Krisen

Wie kommen sie denn auf so was?

Die ganze Welt ist Bühne.
Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen
Durch sieben Akte hin. Zuerst das Kind,
Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt;
Der weinerliche Bube, der mit Bündel
Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke
Ungern zur Schule kriecht …

Monolog Jacques, aus William Shakespeare: „As You Like It“ – „Wie es euch gefällt”

 

Dieser Tage, wo die Sonne einmal zu scheinen geruhte, begegne ich dem ­Witwer L., Vater eines Mitschülers aus meiner Grundschulzeit, zu dem ich keinen Kontakt mehr habe, weil er mit seiner Familie inzwischen im Weserbergland lebt. Uns verbindet manches, aber nicht das Etikett Risikogruppe.

Herr L. vertritt sich gerade um die Mittagszeit ebenso häufig die Beine wie ich, wenn ich vom Homeoffice aufstehe und mit dem kaputten Fuß zum Schlosspark oder Lietzensee schlurfe. Auf dem Weg dorthin ist jeweils auch noch ein großer Discounter. So begegnen wir uns. Wir unterhalten uns wie selbstverständlich über Dinge, die Jahrzehnte zurückliegen, als seien sie gerade passiert. Herr L. liest noch immer regelmäßig die Printausgabe der Westberliner Tageszeitung, von der man bis in die 70er des vergangenen Jahrhunderts noch „gutes Deutsch“ lernen konnte. Er hatte bis vor kurzem einen Festnetzanschluss. Als die Telekom ihm den analogen Anschluss abstellt und zu einem neuen Vertrag nötigt, beschließt er zu kündigen. Da hat er eben kein Telefon mehr. Das Abonnement der Zeitung teilt er sich mit der jungen Nachbarin (59) unter sich, inzwischen (ein bisschen mit meiner Hilfe) auch ihren Telefonanschluss. Sie hat den Quatsch mit der Umstellung ja mitgemacht. Einen Fernsehapparat besitzt er seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Brauchte er bis jetzt auch nie, er hat vor zwei Jahren noch ein Dutzend Seniorensportabzeichen abgeräumt. Den relativ neuen Radioapparat, den der Sohn ihm angeschafft hat, schaltet er nicht an, weil ihm die Programme nicht gefallen und ihn der überflüssige Schnickschnack technischer Handhabung bei dem Gerät maßlos ärgert.

Ich habe mit ihm noch kein einziges Wort über die Ouvertüre und den ersten Akt der weltumspannenden Krise gewechselt. Das ist wirklich sehr entspannend. Es liegt vermutlich nur daran, dass Herr L. schon ein paar mehraktige, weltumspannende Krisen in sein Leben eingemeinden musste. Über die hat er schon gesprochen, sein Bedarf, Krisen zu erörtern, ist also vorerst gedeckt. Er hätte lieber, man würde Krisen sowohl materiell, wie auch rechtzeitig begegnen anstatt darüber in angepasste allgemeine Logorrhoe zu verfallen. Auch braucht er in seinem Alter keine praktischen Tipps mehr, wie man sich zweckmäßig verhält. Er wahrt zum Beispiel auch ohne Pandemie stets den alten Berliner Höflichkeitsabstand von 1,5 Metern und rotzt und hustet nicht seine Nachbarn an sondern in sein Baumwolltaschentuch. Er kocht noch für sich selbst. Er isst wenig, wie ein Vöglein, wenn er schwächelt, was die Nachbarin für ihn einkauft.Er klagt nicht.

Wir fangen immer in irgendeinem vorhergehenden Entreact der Weltgeschichte an, da weiß er die Namen von Leuten aus meiner frühesten Schulzeit, die ich schon längst vergessen habe, beschreibt mir pausbackige Gesichter, die inzwischen hübsch verwelkt sein werden, wie das meinige. Wir lachen ganz viel auf dem Spaziergang durch den Stadtpark. Neulich, in einem dieser Gespräche, die sich darum drehten, wie verkehrt oder richtig dieser oder jener oder man selbst doch mit der Einschätzung einer Sache in der Vergangenheit gelegen habe, kam so ein konstatierender, kurzer Lacher. Einer, an dem man sich auch leicht verschlucken kann, danach eine kleine Pause. Herr L. blieb stehen, drehte sich kurz zu einem kahlen Strauch um und erzählte mir en passant von seinem Onkel, dessen Lunge nach dem Chlornebel im 1. Weltkrieg beim Ausatmen eine Quinte pfiff – sein Leben ließ er in der 1. Welle der spanischen Grippe.