Ich bin ein Mensch. Nichts Unmenschliches ist ihr/ihm/mir fremd.
Ein Zitat in zeitgemäßer Wandlung
Die Interpretation eines Terenz-Zitats, das mir jüngst gleich zweimal, durch einen Radio-Beitrag von Renée Zucker und per E-Mail von einem mir wohlgesonnenen Lehrer für Deutsch und Latein ins Haus flatterte, scheint mir aufschlussreich genug, um ihr eine kleine Reprise zu widmen. Noch bedeutender ist allerdings die Wandlung, ohne die dieses Zitat, von Lateinlehrern sicher bisher unbeachtet, doch durch den Hinweis von dieser Seite aufgemuntert, keinen solchen Vorwitz in meiner Gedankenarchitektur beanspruchen dürfte.
Katholiken bezeichnen als Wandlung den für sie tatsächlichen Vorgang, wie Brot und Wein in der Kommunion zu Christi Leib und Blut werden, weshalb ‚die Reste‘ der Köstlichkeit in einer Art Hochsicherheitshütte, Tabernakel genannt, verwahrt werden. Es handelt sich bei der Wandlung, wie man unschwer folgern kann, um ein Dogma!
Mit ‚Homo sum, humani nihil a me alienum puto.‘ dies ist nach meiner Kenntnis das tatsächliche Zitat des antiken Komödiendichters Terenz, meint man doch wohl, dass auch objektiv unangenehme Eigenschaften zum Menschsein gehören, dass sie nicht wegdiskutiert werden können, weil sie so offensichtlich sind, wenn wir sie an anderen als störend empfinden, insbesondere aber da, wo wir sie bei uns selber feststellen. Und erweitert vielleicht, dass derjenige weniger Schaden in der Welt anrichten wird, der sich der Dualität die dem Erkenntnisgewinn innewohnt nicht verschließt, sondern ihre Zweischneidigkeit begreift und akzeptiert.
Das Komödienhafte, das der Zweischneidigkeit der Erkenntnis zueigen ist, habe die Christen anfangs nicht gemocht, wohl aber beibehalten – denn schlussendlich fühlten sie sich angenehmer, indem sie, insbesondere was die Staatsräson betrifft, eher auf römisch-griechisches, als auf vorderasiatisch-frühchristliches Fundament bauten. Der gemeine Katholik findet daher bis heute nicht uneingeschränkt Vergebung, weil eben dem Menschen und der Humanität grundsätzlich nicht zu trauen ist. Nur Gott selbst kann human sein, wenn er gerade möchte, wenn nicht? Nichts Menschliches sei dem katholischen Menschen daher fremd. Dies gilt jedoch nicht für die sieben Todsünden, die aus der Humanität ausgeklammert werden müssen, um deren Fortbestand im Christentum zu institutionalisieren – so etwas hat Gott selbstredend nicht nötig, aber der Sündenmensch.
Wie mir scheint, findet der interpretationsgeschichtliche Subtext von Terenz durch den Monotheismus mit der ‚Glaubens-Wandlung‘ Eingang in die öffentliche ‚Obskurität‘. Eine Notwendigkeit, die sich einerseits daraus ergibt, dass ich ohne jeden das Lateinische lehren zu wollen, jedermann von der Kontinuität und anhaltenden Konsistenz meiner christlichen Glaubenslehre überzeugen möchte, der noch entfernt von anderen Göttern weiß. Andererseits aus der Not heraus, dass ich als Gelehrter selbst, die antike Philosophie dazu verwendet habe, diese Glaubenssätze in dem gebotenen Maß zu verweltlichen, sie der weltlichen Ordnung dienstbar zu machen. Ohne Dogmatik wäre deswegen allerdings tatsächlich eine fortwährende Erweiterung der Interpretation des Glaubens die Folge- weshalb der Kanon der Schriften begrenzt und dogmatisch bewacht wird, wenn möglich durch eine autoritäre Behörde, wo nicht, indem wenigstens die Meinungsbildung hierarchisch organisiert bleibt. Materiell großzügig ausgestattet, gibt die Meinungsbehörde das ‚Neusprech‘ aus, und kodifiziert bei Strafe der Missachtung der zehn Gebote, was von nun an geglaubt werden darf. Denn ewig droht das Schisma, wie im Morgen- so im Abendland.
Wenn ich als westlicher Rezipient buddhistische Texte studiere, stoße ich manchmal auf dieses Problem des ständig (auch heute noch) wachsenden Kanons der ‚anerkannten‘ Schriften. Ich frage dann meistens: Warum so unübersichtlich, warum wird so viel der Mündlichkeit nachempfundene Wiederholung im Kanon behalten? So erlebe ich Texte als lediglich redundant, weil sie für mich eben zuerst ein Gebet sind, ein Glaubenstext, kein literarischer. Bis ich vielleicht dahinter komme, dass meine westliche Auffassung das eigentliche Problem darstellt.
Die Einschränkungssucht, die Abscheu vor der Erweiterung der Kategorien ins Unendliche, die ganz im Stillen das Legitime in unserem unausgesprochen moralischen Handeln unterfüttern sollte, uns ohne einschränkende Autorität aber nur noch sinnlos und ausweglos erscheint, denn schließlich misstrauen wir seit Kant zuerst den religiösen Urhebern der abendländischen Moralkategorien, heute, mehr noch, der mit irrationaler Vehemenz verdorbenen Narration aus den inflationär wachsenden Zirkeln selbsternannter Vordenker. In diesem Zusammenhang wird rasch klar, welches z.B. die Bausteine sind, von denen penetrant behauptet wird, sie gehörten in unser kulturelles Fundament, und wie billig es ist, eine willkürliche Unterscheidung zu treffen, zwischen unseren angeblich ins Weltliche gewandten moralischen Grundlagen und solchen ‚fremden‘, deren Verweltlichung vielleicht nie ganz gelingen möchte, weil wir eben aus Erfahrung wissen, dass unsere eigene eventuell doch nicht ganz abgeschlossen sein könnte.
Das Problem bleibt doch: Durch unsere derzeitige Gesellschaftsübereinkunft ist die Möglichkeit, offen über individuelle Unmenschlichkeit zu reden, wohlfeil – nicht aber über strukturell bedingte. Denn das würde zugleich bedeuten, sich den Menschen so zu denken, dass er aus eigener Kraft gut und verantwortlich und human sein kann, also im besten Sinn aufgeklärt. Was meinen dann aber die fortgesetzten Appelle, zunehmend eigenverantwortlich einzustehen, für essentiell nur gemeinschaftlich zu bewältigende individuelle Daseinsaspekte wie Krankheit, Alter, Schutz vor psychischer und physischer Gewalt in der Gemeinschaft? Und man kann nicht behaupten, es bliebe bei Appellen, wenn einem großen Teil der Gemeinschaft immer deutlicher vor Augen geführt wird, dass man seine Menschenrechte für ein verzichtbares Privileg hält.
Dass heute unter unseren bekannten Vorbetern fast niemand mehr dazu in der Lage ist, sich selbst Unmenschlichkeit oder auch nur Unehrlichkeit einzugestehen, ist es verwunderlich? Die skandalösesten Minarette sind nicht solche, die Einwanderer bei uns bauen möchten, weil sie hier eben ganz und gar angekommen sind, sondern jene, alles überragenden, der öffentlichen Meinungsmacht, von denen herab es aus bürgerlichem Mund in hoher Auflage, dauernd und kaum widersprochen, chauvinistische, rassistische und sozialdarvinistische Kotzbrocken hagelt.
Warum wurde es nötig das antike Terrenz-Zitat so zu wandeln? Um den ursprünglichen Subtext ohne dessen christlich dogmatische Kategorisierung und seine unwiderruflich in den Alltag geätzte materiell- pragmatische Konnotation wieder in eine humane Gedankenlinie zu zwingen? Manch einer mag schon eine zweite Epoche der europäischen Aufklärung am Horizont erblickt haben. Erst die Grünen mit ihrem bürgerrechtsbewegten Echauffement, das sie längst aufgegeben haben, jetzt die Piraten mit einer mittelständischen Euphorie für eine Kulturtechnik, der man ganz einfach den Stecker rausziehen kann. Das eigentlich Inhumane, die bewusste Teilnahmslosigkeit, die wenigstens vorübergehend doch auch ohne spezielle Kulturtechnik wieder Namen und Adresse bekommen müsste, bleibt in dieser Form der öffentlichen Wahrnehmung obskur. Gläubigen steht das Tabernakel wenigstens zur heiligen Kommunion offen, nicht so den Aufgeklärten, die der Weihrauch genauso betört. Die Gedanken sind frei, denken die Gläubigen weiter im Stillen. Das kann sich aber ganz schnell ändern, sollten wir zurückblickend sagen, denn:
Ich bin die Wange und der Streich,
Ich bin das Messer und die Wunde,
Glieder und Rad zur selben Stunde!
Opfer und Henkersknecht zugleich!
(Aus Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen, deutsch von Max Bruns, vorletzte Strophe des Gedichts mit dem Titel L’Heuautontmoroumenos, der Selbsthenker. So heißt auch das Stück aus dem unser Zitat stammt von dem wahrscheinlich libyschen Sklaven, dem sein römischer Herr Bildung und die Freiheit gewährte, Publius Terenz Afer, der Afrikaner war und Römer wurde.)
Dass wir modernen ‚WandlerInnen‘ eine Korrektur des Terenz-Zitats überhaupt für notwendig erachtet haben, spricht vernehmlich von unserer Kultur des Verschweigens und allererst davon, wie unfrei wir so kurz nach der europäischen Aufklärung immer noch oder schon wieder geworden sind, wir und unsere Gedanken – dialektisch betrachtet. Warum ist die Ontogenese der Interpretation so bezeichnend für den medialen Akt, der bisher noch nach jedem kaum mehr zu vertuschenden öffentlichen ‚Fehltritt‘ in den Reihen der Bourgeoisie, scheinbar reuelose Selbstbezichtigung bedeutete? Weil wir allem Anschein nach die eigene Verantwortlichkeit für den schlechten Zustand der Menschlichkeit in der Welt, nach der Aufklärung als genau genommen humane Kategorie ablehnen. Abhilfe schafft für den einen sein reaktionäres Glaubenwollen, den anderen möge hoffentlich die Göttlichkeit dieser menschlichen Komödie retten – Homo sum!