Sarrazins Staffelstab – Vom Feuilleton weitergereicht

„Nun folgen sie ihm mit ruhig, festem Schritt. Die Politiker.
Oder lese ich die Zeitungen nicht richtig?“

Das fragt mich heute ein Kollege, während vielerorts in deutschen Medien die Frage nach dem Rechtsruck in der BRD verneint wird . Und ich antworte ihm:

Nein, nein Du liest schon richtig. Und es hatte einen Vorteil, dass der Dr. S. vom Boulevard aus das Feuilleton so gründlich von seinen linken, arbeitsscheuen und multikultuerellen Vorurteilen kuriert hat: die Terminologie der Einpeitscher wird deutlicher, die Absichten werden erkennbarer. Der Staffelstab der populären Intoleranz ist längst weitergegeben. Sarazin hat ihn seinerseits auch nur von Roland Koch und ähnlichen Demokraten übernommen und sein Rennen beachtlich gemacht, zugegeben. Gleichzeitig mit dem Rennen war aber schon ein Zug aufs Gleis gesetzt, der sich gewissermaßen von selbst beschleunigt, denn es geht europaweit  für die Mehrheit des Volkes bergab.

Jetzt kommt, was ich schon lange erwartet habe, die Spaltung; es sind bald nur mehr eindeutige Parteinahmen möglich. In anderen Ländern gehen sie aber wegen der sozialen Verhältnisse und der Ignoranz ihrer Regierungen gegen die simpelsten Bedürfnisse der Mehrheit auf die Straße, und bei uns ist ein unvergleichlich blödsinniges Bauvorhaben der „Noch Nicht Börsenbahn“ zeitweiliger Katalysator für braven, bürgerlichen Protest. Den ‚Parkschützern‘ sei gedankt, die sich der fadenscheinigen „Schlichtung“ widersetzen, weil damit, entegegen Bürgers ursprünglich gefühlter Überzeugung, sein Drang nach Wiedereintritt in die Behaglichkeit befördert werden soll. Dass Ihr Euch wieder einmal in die Tasche lügt, Euch über den Tisch ziehen lasst, ist das Ziel dieser so genannten Schlichtung! Den ‚Parkschützern‘, die sich nicht einlullen lassen wollen, gebührt i.M. mein Respekt! Auf der anderen Seite dieser immer noch bunten emenzipatorischen Skala steht geschürte Fremdenfeindlichkeit, wie fast überall im Bianco-Latte-Europa, wo kreidebleiche oder puterrot angeschwollene Hälse mit und ohne Kropf mehr oder weniger verbrähmt schon wieder die angebliche kulturelle oder rassische Überlegenheit der einen Menschensorte gegenüber den anderen hinausblöken; das macht genauso Quote, ist aber antiemanzipatorisch. Ihr dürft das nicht vergessen!

Wie ein siebtes Weltwunder beschreiben die Kommentatoren den zivilen Ungehorsam, dessen letzter eruptiver Ausbruch in der Ära des Natodoppelbeschusses und der Anti-Atomkraft-Bewegung liegt. Ziemlich lange her, finden Sie nicht auch meine Damen und Herren Bürger?  Sie bestaunen auch die zielgerichtete Gewalt, die vom Staat ausgeht, gegen den Protest beim Abriss eines Kopfbahnhofs und beim Fällen einiger ehrwürdiger Bäume im Stuttgarter Schlossgarten. Ein Rentner ist blind vom Strahl der Wasserwerfer unserer demokratischen Polizeigewalt. Gewalt vom Staat gegen Bäume und nicht zu vergessen Menschen, die dieses verfassungsmäßig verbürgte Recht, ihre Meinung auf der Straße gegen die ansonsten meist tauben Ohren ihrer Volksvertreter zu brüllen, selten genug in Ansppruch genommen haben, z.B. zur Verteidigung ihrer Arbeitnehmerrechte. Offenbart sich Euch denn jetzt zum ersten Mal, das Gewalt vom Staat in anderer Gestalt ausgehen kann, als dies der deutsche Michel bisher für gerade noch mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten hat? Da kann die Demo-Assistenz der alten Wendländer Euch vielleicht nicht schaden, denen werdet Ihr vielleicht Glauben schenken, wenn sie aus dem Nähkästchen plaudern. Ja, Hergottle, auf welcher Droge seid ihr denn all die Jahre gewesen? Die möchte ich gern auch mal probieren. Mich deucht, ich würde besser schlafen.

Während die Schweizer den Minarettbau verbieten aber gleichzeitig ihr auf breite Zustimmung und einem soliden Plebiszit basierendes achtes Weltwunder in ein Gotthardmassiv meißeln,  um den Tunnel anschließend wie Sauerbier anzubieten, bei den europäischen Verkehrsministern, deren Haushalte ausgedünnt sind und die, wie im Fall des deutschen Ressortleiters keinen Finger rühren, wenn es um versprochene, was sage ich, vertraglich vereinbarte Gelder zur Verkehrsanbindung des Jahrtausendtunnels auf deutscher Seite geht. Vonwegen, den Verkehr von Rotterdam bis in Italiens idyllische Auen auf die Schiene bringen wollen – alles vorsätzliche Lügen. Die armen Schweizer.

Nun, einige werden einfach weiter schweigen, wie sie zu anderen brennenden Themen der Zeit, die erst ihren Enkeln auf die Füße fallen, auch schweigen. Andere werden lauter und noch blumiger beschreiben, wo „das Volk“ den Hammer hängen haben könnte, wenn es nur den richtigen Leuten folgte… und wieder andere werden sich hüten, den instrumentalisierten Zorn nicht abzubekommen, indem sie diesen ihrerseits lautstark auf noch ärmere Säue umleiten. Maulhalten ist doch kein Naturgesetzt, oder? Vor kurzem habe ich hier geschrieben:

Die Stichwortgeber, die u. a. mit dem Begriff Parallelgesellschaft hantieren, sind kräftig dabei, Inhalt und Bedeutung dieses Stichworts antiemamzipatorisch weiterzufassen. Ihr mittelfristiges Ziel ist die Ausbildung einer durch konstruierte Sachzwänge legitimierten Appartheid, die sich mit mehr Wucht gegen Arme und wie auch immer Ausgegrenzte wenden wird, als wir es jetzt für möglich halten. Die braune Scheiße parfümiert sich dazu derzeit auf breiter Front in aller Öffentlichkeit mit einem Duft von Rechtsstaatlichkeit und fröhlichem Nationalstolz. Und hinterher will es wieder niemand gemerkt haben oder gewesen sein.

Die Fröhlichkeit werden diese deutsche Identitätssucht, der sich abgrenzende Stolz, die da ins Rollen gebracht worden sind, ganz schnell abtun. Die Komponenten des ’neuen‘ Wir-Gefühls, das wie alle identitätsstiftenden Massenphänomene, sich durch Abgrenzung fett macht, wurden ja intern bereits durch die Einheitsdiskussionen nach der Vereinigung konstituiert. Dabei war der Vorgang selbst für manch einen Anpassungskünstler zunächst vielleicht wirklich völlig wertfrei. Ossi, Wessi, Türke, Jugo, Jude, Muslim, Schwuli, Homoehe, Durchgeknallte, Folter als Notwehr der Gesellschaft gegen Straftaten, Zwangsfesselung von Alten und von Psychatrieinsassen schon sowieso – das ist doch nichts Erschreckendes, wir meinen es doch gut mit euch, es ist doch nur zu eurem Besten. „Ich hab euch doch alle lieb,“ wird der DDR-Stasiminister Mielke, ein Kind aus dem Volke zitiert. So war aber auch immer unsere Politiker-Ansage im Westen – einige davon, auch Kinder aus dem Volk, unehelich geboren, sind Kanzler geworden usw. Wenn es vor Wahlen eng wird, hatte man auch im Westen von jeher alle ganz schnell lieb.  Der S21-Schlichter Geißler musste 20 Jahre vor dem Anschluss ein paar meschuggenen Umweltschützern schließlich sagen, dass er sie ganz doll lieb hat, weil die öffentliche Meinung seine bisherige Auffassung selbst innerhalb der CDU obsolet werden ließ. Seitdem gilt er als Querdenker und ist in Attac. Das Begehren des Vokes ist ein Machtfaktor, den die Politik gerne knallhart kalkulieren würde -sie kann es aber nicht, ohne auch die  Reste des verbliebenen politischen Anstands zu erweichen!

Genauso fromm, wie Mielke auf dem Alex, hat der Fallschirmspringer Möllemann nachgepredigt, was ihm aufgetragen ward, als ihm aus der ‚Mitte‘ der Gesellschaft wegen seiner Palästinenserliebe und anderer Unverzeihlichkeiten, zweifelsfrei Antsemitismus nachgewiesen wurde.  Nicht etwa explizit vom Zentralrat der Juden, obwohl der ja auch (zu) Deutschland gehören müsste, mehr noch die christlich jüdische Identität gehört (zu) oder horcht  auf (gehorcht?) Deutschland und zwar zweifelsfrei, wie unser Bundespräsidennt vorsichtshalber betont, weil er sich eben gar nicht  sicher ist, weil er Zweifel hat – und „inzwischen“ gehört auch der Islam (zu) Deutschland, aber, wie es scheint, nicht ganz so oder zumindest weniger zweifelsfrei, als die christlich-jüdische Leitkultur, die die Rechtsvorbeter gerne in jede deutsche Eichenrinde einschneiden möchten – wenn die Bäume nicht wegen höherer Staatsinteresssen zum Wohle des Volkes aber gegen dessen Willen gefällt werden müssen, versteht sich! Caesar ist gewiss (also zweifellsfrei) ein ehrenwerter Mann. Und es gab schon in der Causa Möllemann die Welle der Sympathie aus dem Wahlvolk, wie jetzt von älteren SPD-Genossen und Neuköllner Bezirksbürgermeistern für Thilo Sarrazins Gesinnungslauf durch die braunen Niederungen der Berliner Republik. Wen wundert das? „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Es scheint doch da eine Konstante im Volksliebhabeverhalten von politischen Akteuren zu geben, auf die wir, das Wahlvolk,  nur allzugerne eingehen. Aber worin bestand das Ziel derer, die neuerlich den Volkszornzug so totsicher auf Gleis gesetzt haben??? Und wenn es für einige gutwillige Demokraten absehbar war, worin diese Bemühungen münden sollten, warum haben sie dann nicht unmittelbar und viel machtvoller oponiert, als es nach meiner Einschätzung geschehen ist – aus den Reihen der Sozialdemokratie habe ich nach Schröder und seinen Agendaarchitekten sowieso nichts erwartet.

Aber aus der Partei des permanenten institutionalisierten ökologischen Fortschritts? Ich gebe zu, ich hatte Hoffnung. Sie haben Volker Beck. Immerhin haben sie  jetzt schon seit geraumer Zeit einen „türkischstämmigen“ Vorsitzenden, der selbsverständlich auch seinen Müll trennt…  Die Wortschöpfung ‚türkischstämmig‘ ist so ungenau wie dämlich, aber sie illustriert exakt, welche vokabularen Verrenkungen noch einige Zeit notwendig bleiben werden, um sich als identitätsheischende Nation deutscher Opfer zu definieren. Das ist en vogue. Darin sind sich nicht nur Erika Steinbach und die Ihrigen bei der von ihnen so genannten  Vergangenheitbewältigung einig.

Also weiter Obacht! Wer kann schon sagen, wovor sich die Vertreter momentan tolerabler Minderheiten im Innersten mehr fürchten,  z.B als schwule und lesbische Politakteure, die es in allen Parteien gibt?  Dass sie mit 75 in einer  durchislamisierten deutschen Schariarepublik nicht mehr für Schwulen- und Lesbenrechte auf die Straße gehen dürfen, oder dass Aidsmedikamente für Arme auch in Deutschland nicht mehr erschwinglich sein werden? Nun, für letzeres Dilemma können wir hoffen: eventuell hat die Pharmforschung bis dahin ein Mittelchen erfunden, welches dieses und andere kleine menschliche Defekte zweifelsfrei beheben wird. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.  Man könnte andererseits, statt zu hoffen und auf Godot zu warten, auch bei uns für einen Mindestlohn von 15 Euro mal einen zünftigen Generalstreik vom Zaun brechen. Und es würde helfen, gerade hier.

Aber die deutsche bürgerliche Linke, die scheinbar noch existiert, auch wenn sie sich selbst nicht so nennen mag, changiert wie gewohnt, in historischer Vorhersehbarkeit, zwischen – einerseits  der Angst vor plebiszitären Meinungsbildungshebeln, die einem u.U. doch aus der Hand gleiten können, weshalb sie diese Hebel der Rechten selbstlos überlässt, und andererseits dem innigen Sonntagsglauben, das Volk möge sich im entscheidenden Moment doch bitteschön vernunftbegabter erweisen, als die bürgerliche Linke dies rückblickend betrachtet, bisher erwarten durfte.