Eine Kriminalkurzgeschichte in vier Folgen
Folge I – Vier Stricke und ein fassadenkletternder Bulle
Bernhard Herrka entsprach keiner gesellschaftlichen Norm. Er war aus dem vorigen Jahrhundert und bemühte sich, in diesem, so gut es ging, zu überleben. An einem ungewöhnlich kalten Junimorgen läutete das alte schwarze Bakelittelefon. Herrka war gerade dabei, die Reste seines Haupthaars zu shampoonieren. In seiner Jugend hatte er in sein dunkelblondes, sehr dünnes Haar einen ganzen Batzen von dem Haarwaschmittel geben müssen. Jetzt reichten ein paar Tropfen von dem teuren Biershampoo, das angeblich Fülle ins Haar bringen sollte. Herrka stieg aus der Wanne, in der er duschte. Wenn er dies eilig tat, dachte er jedes mal an den Sturz von Rudi Dutschke, der eigentlich an den Spätfolgen des faschistischen Attentats gestorben war, das die Springerpresse herbei gehetzt hatte. Aber tot ist tot, egal ob man sich am Badewannenrand den Hals bricht oder nach dem Orgasmus im Bett einen Herzkasper kriegt. Herrka versuchte, seine Bewegungen beim Aussteigen präzise zu koordinieren. Mit der Körperbeherrschung hatte es bei ihm krankheitsbedingt phasenweise immer wieder stark nachgelassen. Besonders dann, wenn er in der Depression schwamm und sich wenig bis gar nicht bewegte. Ohnehin hasste er Bewegung, die keinem ersichtlichen Zweck diente, also auch das ganze Sportprogramm, das ihm sein behandelnder Arzt ans Herz gelegt hatte, um nicht zu sagen, befohlen.
Das Telefon läutete bereits zum fünften Mal, als es Herrka unabgetrocknet und frierend endlich geschafft hatte, den Hörer von der Gabel zu nehmen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine arme Callcenteragentin, die man verdonnert hatte, Leute zu belästigen, und die das mit Scham in der Stimme tat, weil sie das für besser hielt, als sich von den Willkürlichkeiten des sogenannten Jobcenters Gewalt antun zu lassen.
“Scheiße!” brüllte Herrka in den Apparat und knallte den schweren Hörer in die Gabel. Fehlt nur noch, dass die Zettelknilche wieder ausgerechnet bei mir klingeln, um ihr Altpapier auf die Briefkästen zu verteilen, dachte Herrka wütend. Dieser ganze Mist. Seine Haarwäsche setzte er am Handwaschbecken fort. So geladen, wie er war, hatte er Sorge, er würde bei der Prozedur rein in die Wanne, raus aus der Wanne, diesmal wirklich ausgleiten und sich das Genick brechen. Dieser ganze Bereich der Halswirbelsäule war ohnehin ein stetig sprudelnder Quell des Schmerzes, der ihm in regelmäßigen Abständen die Hölle der Migräne bescherte. Nur langsam, dachte er. Überhaupt: Für wen soll diese ganze Tempospinnerei in diesem tollen neuen Jahrhundert eigentlich gut sein. Für mich nicht. Und von wegen neues Jahrhundert: Gar nichts ist neu. Es ist das gleiche alte beschissene Gewese, das diese dumme Menschheit um sich macht. Die meisten nehmen sich so wichtig, dass sie ständig Gefahr laufen, vor Wichtigkeit zu platzen und andere mit ihrer Wichtigkeit zu besudeln. Gut, es gibt ein neues Vokabular, aber wozu taugt es? Es destilliert aus einer ehemals schönen Sprache die qualvolle Erfahrung der Sinnlosigkeit des Sprechens, der Formulierung, weiter nichts. Es ist belästigend und überflüssig wie ein Kropf, irgendwem etwas mitteilen zu wollen, es ist mit dieser Sprache geradezu obszön.
Herrka trocknete sich ab und frottierte das ausgedünnte Haupthaar. Er betrachtete die unregelmäßigen grauen Stellen an den Schläfen im Spiegel über dem Waschbecken, als sich das Telefon erneut meldete. Gelassen schritt er, das Handtuch diesmal unter dem umfänglichen Bauch verknotend, und nahm den Hörer ab, nachdem die hübsche Glocke zum dritte Mal geschellt hatte. Atemlos und erregt meldete sich ein Bekannter.
“Werner hier, Du hör mal, du hast doch eine gute Kamera oder?”
Herrka hatte zwar eine, aber sie funktionierte nur, wenn sie Lust dazu hatte. Das war lästig aber im Prinzip OK. Im Übrigen misstraute Herrka diesem Werner, den er von einem furchtbar peinlichen Eineurojob kannte. Werner war zum Wachmann avanciert, soviel war Herrka zu Ohren gekommen, aber wen oder was Werner nun zu bewachen hatte, war Herrka bei dem Tratsch, den er hasste, nicht mitgeteilt worden, oder es war ihm einfach entfallen. Er bemühte sich jedoch, neutral zu formulieren, damit sein Unwille den schlechten Bekannten nicht verletzten möge.
“Ja, Werner, tut mir Leid, die ist leider im Arsch. Mal geht sie, mal nicht.”
“Egal, du bist der Einzige, den ich bis jetzt erreichen kann. Hier oben bietet sich einem ein schöneres Bild, kann ich dir sagen, also ich weiß nicht…eigentlich doch eher ein schauderhaftes…
“Wo bist Du denn, verdammt noch mal? Ich höre irgendeinen Elektromotor im Hintergrund.”
“Ich bin auf dem Dach vom Jobcenter… Hier hängen nebeneinander drei Typen und eine Frau, aufgebaumelt, verstehst Du? Alles Sachbearbeiter, die Frau ist Abteilungsleiterin oder so…”
Herrka verstummte. “Hey, Herrka, bist Du noch da?”
“Ja, verdammt ich bin noch da, und du? Bist du jetzt völlig durchgeknallt, oder soll das ein blöder Gag sein, um mich mit der Kamera in deine versiffte Bude zu locken? Wie willst Du überhaupt da rein gekommen sein?”
Langsam dämmerte Herrka, dass an der wahnwitzigen Schilderung doch etwas dran sein musste, denn Werner war zwar ein intrigantes Arschloch, aber nicht bescheuert. Und jetzt fiel es Herrka auch wieder ein, dass Werner das Jobcenter bewachte. Ein Superjob für ein Arschloch, dachte er.
“Ist doch jetzt schnuppe, Herrka, komm her, nimm die Kamera und das Handy mit. Wenn du vor der Tür bist, rufst Du mich an, und ich erkläre dir, wie du über die Tiefgarage hier reinkommst. Da gibt es so ‘ne Tastatur, wo du ’nen Nummerncode eingeben musst.”
“Ich hab’ kein Handy, Werner, also musst du es mir wohl gleich erklären.”
“Mein Gott, Herrka, Herrka! Die Nummer ist 7201784, hörst du? Vergiss das nicht. Du sollst Fotos machen von dem Elend hier. Was meinst du, was die bringen, wenn wir die an die ganze Boulevardpresse verkloppen. Schön scheibchenweise. Immer noch eins und noch eins. Du musst nur ‘ne Menge knipsen, und wir werden stinkreich, Alter, Moment mal…”
Durch das Handy hörte Herrka wie Werner flehte: “Nein bitte, bitte nicht, ich..” Dann folgte ein Schuss und dann polterte Werners Handy auf den Boden. Wieder war der Fahrstuhlmotor zu hören. Schritte von hochhackigen Bleistiftabsätzen kamen auf das Handy zu, und jemand drückte das Gespräch weg.
“Verdammt”, brachte Herrka hervor. Während er den Telefonhörer immer noch in der Hand hielt. Als wäre das letzte Wort nicht schon gesprochen, fühlte er an Hals und Schläfen seinen enorm beschleunigten Puls pochen. Er nahm sich zusammen, drückte auf die Gabel, bekam das Freizeichen und wählte die Nummer des Polizeinotrufs. Als sich die Notrufzentrale meldete, legte Herrka schnell wieder auf. Was hätte er denen sagen sollen? Die Geschichte war so unglaublich, wahrscheinlich hätte man ihn einweisen lassen dafür.
Aber es handelte sich doch um keinen Gag. Die Blätter des nächsten Tages hatten die Story als Aufmacher – das heißt nicht ganz. Überschrift: Wachmann erschießt sich auf dem Dachboden des Jobcenters – usw. usf. Daneben irgendein altes Foto, das rein gar nichts mit dem Werner zu tun hatte, den Herrka aus dem Eineuro-Zeitungsprojekt kannte. Gut. Da war von einem Wachmann im Jobcenter die Rede, der sich auf dem Dachboden selbst erschossen hatte, wahrscheinlich aus Frust, dass er seinen Job bald wieder verlieren würde. Aber kein Wort von den vier Beamten, die Werner hatte baumeln sehen. Kein Wort über Werners Dienstherrin, eine private Wach- und Schließgesellschaft, die gerade Konkurs angemeldet hatte, nichts.
Herrka hasste die sinnlosen Termine im Jobcenter. Doch nun ließ er sich einen bei seiner Sachbearbeiterin geben, um einen Vorwand zu haben, in das zwölfstöckige Gebäude zu kommen, auf dessen Dachboden ein entfernter Bekannter von ihm durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe zum Schweigen gebracht worden war, vermutlich von einer Frau.
Juppi Perstein wusste da schon mehr. Aber er hatte auch einen gut eingespielten Apparat im Rücken, der die Drecksarbeit machte, während er sich bei einem Bier in seiner Alt-68-er-Stammkneipe verschiedene Abläufe zusammen reimte, denn er glaubt nicht an Selbstmord, obwohl alles ganz hübsch passte. Da war zunächst einmal der Fundort der Leiche, auf Dachböden wurde gern gestorben, wenngleich sich die meisten einfach dort aufhängten. Auch die Tatsache, dass der Tote, bevor er Wachmann geworden, justament in diesem Jobcenter Klient gewesen war, dass ferner seine Firma Konkurs angemeldet hatte, er also bald wieder in einem der zwölf Stockwerke in einem dieser verdammte Warteräume sitzen und sich wie der letzte Dreck fühlen würde. Das passte alles zusammen. Da war ein Motiv, wie es besser nicht sein konnte, und die kriminaltechnischen Untersuchungen redeten die gleiche glasklare Sprache. Selbstmord. Die Tatwaffe, eine Beretta, war auf den Chef der Wachfirma registriert. Die Auflösungserscheinungen in dessen Firma mochten es dem Suizidanten erleichtert haben, an die Waffe heranzukommen, die der Inhaber in einem privaten Waffenschrank verwahrte, der dürftig gesichert war. Die Firma mit ihren gut 40 Arbeitsplätzen hatte er durch riskante Spekulationen an die Wand gefahren. Aber nicht er war tot, sondern sein Angestellter. Wenn der Wachmann mit seinem Selbstmord eines ausdrücken wollte, dann, dass er die Schnauze voll hatte. Von den Praktiken seines Arbeitgebers, der miesen Entlohnung und erst recht von der Stumpfheit einer Gesellschaft, die mit Hartz IV leben kann, ohne dass größere Teile der Betroffenen in absehbarer Zeit aufmucken würden.
So sah Juppi Perstein das. Und dennoch war irgendetwas faul hier; das spürte er. Er überlegte nur noch, ob er sich reinhängen sollte oder nicht. Wenn er sich reinhängen würde, hieße das unter Umständen seine Reise nach Algerien müsste flach fallen – Ermittlungen hatten so ihre eigene Dynamik. Im Grunde konnte man nicht genau vorhersagen, wie sie sich entwickeln würde. Dafür mochte Hauptkommissar Perstein andererseits seinen Job auch nach 30 Jahren noch, obwohl sich inzwischen im Vergleich zu seinen Anfängen in den Achtzigern fast alles verändert hatte: Methoden, Herangehensweisen, Kriminaltechnik, Routinen. Entscheidend war immer noch, ob man immer wieder Spaß daran finden konnte, eine Geschichte in Variationen zu Ende zu spinnen. Dabei half ihm die Dialektik, denn Juppi war Kommunist, wie schon sein Vater, der auch bei den Bullen war und beinahe noch den Berufsverboten erlegen wäre.
Vater Karl war Mitglied der Kreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin (SEW), betrieb zu Weihnachten einen gut gehenden Christbaumhandel auf einem großen Platz in einer stinkreichen Gegend und wäre über sein Ausscheiden aus dem aktiven Dienst bei der Berliner Kriminalpolizei, nicht übermäßig traurig gewesen, obwohl er gerne Bulle war. Aber da war die Frage der Pension, keine Frage der Ehre, wie Karl betonte, sondern eine des Klassenbewusstseins. Als sein Sohn in den Polizeidienst eintrat, hatte er noch ein halbes Jahr bis zur Pension. Und er war immer noch Kommissar. Jede regelmäßige Beförderung war ihm als Kommunist versagt worden, bis zu dem Tag vor seinem Ausscheiden, wo er einen unscheinbaren Brief auf seinem Schreibtisch fand, in dem man ihm mitteilte, dass er mit den Bezügen eines Hauptkommissars in Rente gehen würde. Er nahm das gelassen hin, wie er auch die Demütigungen stets gelassen als etwas betrachtet hatte, das sein Engagement für eine menschlichere Gesellschaftsordnung nur noch bestärkte. Dann räumte er die paar persönlichen Sachen aus dem Schreibtisch und füllte damit eine gelbe Plastikkiste, die er sich aus der Poststelle geliehen hatte.
Juppi Perstein nannte eine durchtrainierte Muskulatur sein eigen, wirkte aber trotzdem eher drahtig, was daran liegen mochte, dass er einsneunundachtzig lang war und trotzdem nur gute 85 Kilo auf die Wage brachte. Als Jungbulle hatte Juppi einmal einen Sprayer über die Gleise der Hochbahn verfolgt. Mit Leichtigkeit hatte er den Typen trotz des Gleisbrettschotters erwischt. Seine Lauftechnik war genial. Er hüpfte fast wie ein Hürdenläufer von Schwelle zu Schwelle. Der Typ hatte keine Chance, ihm zu entkommen. Und das war auch besser so, denn es kam ihnen eine U-Bahn entgegen. Juppi krallte sich den Jungen mit eiserne Hand und drückte ihn an die Brüstung. Dieser brüllte gegen den Lärm der vorbei donnernden U-Bahn: “Ey, Mann, bist du bescheuert, du drückst mir ja die Luft ab, dämlicher Bulle.” Die U-Bahn war vorbei, und Juppi lies den Jungen wieder los. Der aber bewegte seine Gräten so unglücklich, dass er mit der Stromschiene in Berührung kam und verschmorte. Das war Juppis Trauma.
Er konnte es einfach nicht aus dem verdammten Schädel bringen. Er saß beim siebten oder achten kleinen Kölsch, und die Frau hinterm Tresen wollte Feierabend machen. Sie hatte die Stühle schon alle hochgestellt, nur auf dem einen Barhocker saß der lange Dürre und starrte auf die abgeschraubten Bierhähne, die funktionslos in einem 0,5 Glas schwammen, obendrauf eine Zitronenscheibe. Nur einer war noch angeschraubt – der Kölschhahn für den Schuss, den Juppi möglicherweise noch verlangen würde, denn das war sein gutes Recht in der Stammkneipe.
“Juppi, Feierabend, willste noch ’n Schuss? Denn bestell’ ich dir schon mal ‘ne Taxe, ja?”
“Ein dämlicher Ausdruck für sowas, Schuss, ist doch bescheuert -aaahch brauch keine Taxe’, ick laufe.”
“Na nich’ dass de mir noch hinfällst, du weeßt ja, ick habe ‘ne Sorgfaltspflicht.”
“Red keen Blech Ursel, wat kriegste?”
“Acht Kleine, macht 20 Mäuse, ick kann’s och auf den Deckel tun, wenne willst…”
“Ja, mach mal, schlaf jut, bis morjen.”
Blitzschnell stand der lange Kerl auf und verschwand mit der Motorradjacke überm Arm in der dunklen Kälte der Juninacht.
Herrka hatte sich im Jobcenter einsperren lassen und war eine Zeit lang eingenickt. Nun knipste er seine kleine Funzel an und hielt den Strahl so, dass er glaubte, man würde von außen keinen verdächtigen Lichtschein erkennen können. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg aus der Toilette und durch das stockfinstere oberste Stockwerk des Gebäudes. Er hatte keine Ahnung, was er genau machen wollte, aber er steuerte zielstrebig auf die Fahrstühle zu und fand hier oben eine kleine feuersichere Stahltür links neben den Fahrstühlen, die nicht einmal abgeschlossen war. Dahinter führte eine stählerne Wendeltreppe ins Maschinenhaus der Fahrstuhlanlage. Über vier riesengroße Räder liefen die Stahlseile, an denen die Kabinen tagein, tagaus zwölf Stockwerke hinauf und hinunter fuhren, in den Etagen anhielten, Beamte und Klienten ausspieen und wieder aufsaugten, scheinbar einer Gesetzmäßigkeit folgend, doch keine erkennbaren Logik.
Als Juppi leicht torkelnd um die Ecke bog, meinte er, einen minimalen Lichtschein, aus dem obersten Stockwerk scheinen zu sehen. “Ach, Scheiß der Hund drauf”, bellte er gegen den Eingang der Tiefgarage des Jobcenters, und seine Worte hallten wider. Dann dieses Flackern im obersten Stockwerk noch einmal. Und diesmal konnte es wohl kein Irrtum gewesen sein, denn jetzt sah Juppi mit bloßem Auge auch ein Fenster dort oben aufgehen, aus dem es mitten in der Nacht Aktenblätter regnete, die in der Windstille langsam wie Ahornsamen auf den Gehsteig und die Straße herab segelten. Zwei Sekunden später gab es plötzlich einen hellen Lichtschein, und ein Feuer flackerte im dritten Stockwerk auf, das aber rasch wieder zu verlöschen schien. Juppi durchsuchte die Seitentasche seine Mopedjacke, in der sich normalerweise das Handy befinden sollte – leer. Er musste es bei den “Philharmonikern” liegen gelassen haben. Egal, er fühlte sich fit genug und kletterte an der Fassade des Hochhauses, in dem sich diese Merkwürdigkeiten abspielten, bis ins oberste Stockwerk hoch, als sei das ein Spaziergang. Dort angekommen gelangte er ausgepowert nur noch kopfüber in einen kleinen Raum mit altmodischen Metallschränken, aus denen die Schubladen herausgerissen waren, deren Inhalt jemand über den gesamten Fußboden verteilt und teilweise aus dem Fenster geschmissen hatte. Die Tür zum Gang stand eine Handbreit offen. Juppi griff zu seiner Kanone. Die wenigstens war an ihrem Platz, wo sie hingehörte. Er entsicherte die 9-mm-Walter PPK/S. Das Geräusch war schwerlich zu überhören. Von draußen ballerte jedenfalls postwendend jemand durch die Zimmertür, die dabei noch einen Spalt weit mehr aufging. Ein Projektil erwischte Juppi an der Schusshand. Er stöhnte leicht auf und verbarrikadierte sich hinter den Metallschränken, von denen er instinktiv drei Stück auf ihren Rollen in Schussrichtung voreinander schob, denn einer allein hätte keinen besonders guten Kugelfang abgegeben. Ein weiterer Schuss fiel. Das Projektil zerstob diesmal den Papiermüll auf dem Fußboden, der Schütze, dessen Position Juppi nur erahnen konnte, musste jetzt direkt im Raum sein oder draußen aus erhöhter Position schießen. Dann zwei weitere Schüsse aus einer leicht veränderten Position, dann Stille. Aber warum verschwand der Mensch nicht einfach über den Gang und die Treppe? Wahrscheinlich gab es in dem langen Gang keine besonders gute Deckung. Natürlich hätte die Person, die auf Juppi schoss, eine Tür eintreten können. Aber damit hätte sie sich in die gleiche unvorteilhafte Lage gebracht, in der sich Juppi nach seiner wahnhaften Kletteraktion und dem Eindringen in den altmodischen Registraturraum befand. Die Person konnte auch nicht einfach den Gang entlang laufen; Juppi hätte es gehört und wäre hinter seiner Blechbarrikade aus der Deckung gegangen, und mit ein bisschen Geschick hätte er die Person noch auf dem Gang gestellt. Im Augenblick sah es nach Patt aus. Wem die Munition zuerst ausging, der hatte verloren und würde doch noch Matt gesetzt.
Aber es gab ja auch noch die wage Möglichkeit, dass irgendwer da unten sich über die zerfledderten Akten beugen könnte und auf den Gedanken käme, dass da was nicht stimmen könnte, vielleicht die Schüsse hören würde und die Kollegen alarmierte. Ein kleiner Nervenkrieg entspannte sich in der Stille, die plötzlich eine Ewigkeit zu dauern schien. Juppi machte eine sachte Bewegung, um sich der Jacke und dann des Hemds zu entledigen und mit einem Ärmel seine verletzte Hand einzuwickeln, die immer noch stark blutete. Dabei stieß er leicht gegen den Blechschrank vor ihm, dessen nicht geöltes Rollgestell einen spitzen kleinen Quietscher von sich gab. Nichts rührte sich, keiner schoss von draußen. Juppi folgerte, die Person habe sich auf Zehenspitzen buchstäblich aus dem Staub gemacht. Aber das konnte genauso gut eine Finte sein, um ihn zu erwischen. Doch er lag richtig mit seiner ersten Vermutung. Als er auf den Gang kam, sah er dort nur noch vier leere 9-mm-Hülsen vor einem hässlichen Stuhl liegen. Von dort oben hatte der Täter oder die Täterin das zweite Mal auf ihn geschossen, in der Hoffnung, Juppi werde sich einstweilen nicht von der Stelle bewegen, was er ja dann auch tat. Von der Person war weit und breit keine Spur mehr.
Hauptkommissar Perstein war erleichtert. Jetzt trat er eine Zimmertür ein, schnappte sich den Telefonapparat auf dem Schreibtisch und rief seine Dienststelle an. Mit Lalülala rückte vier Wannen aus, und trafen fast unmittelbar gleichzeitig mit einem Wachschutzmann vor dem Jobcenter ein, in dessen Firma über einen Bewegungsmelder im Gebäude Alarm ausgelöst worden war. Er hatte den Generalschlüssel in der Tasche, die etwas früher eingetroffenen Wannenbesatzungen verschafften sich gerade selbst Einlass, indem sie die hässliche gläserne Einganspforte mit ihrem Werkzeug kunstgerecht zerlegten. Ein an der Hand blutender Kollege kam ihnen entgegen und zeigte seine Hundemarke, um den Jungs und Mädels zu bedeuten, dass er einer von ihnen war, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie seine Fresse nicht gleich erkennen sollten. Denn man kannte und mochte den KomJupp. Seine Einlassungen gegenüber der Polizeidirektion waren mindestens ebenso waghalsig, wie die inkriminierten Diensthandlungen, die dazu geführt hatten. Gerade bei den Berufsanfängern in den unteren Rängen dienten letztere immer als willkommenes Gesprächsthema während der Theoriestunden. Der KomJupp war ein Vorbild, auch wenn man das nicht offiziell sagen konnte.
Doch hinter dem Hauptkommissar kam noch eine Figur in das dunstige Sparlaternenlicht des Eingansbereichs. Wie es schien, trug sie keine Waffe, aber man konnte nicht wissen. Eine Polizistin machte Perstein eine unauffällige Geste, und dieser begriff sofort, dass er jemand im Nacken hatte. Der Lange drehte sich mit dem Tempo einer nervösen Muskelzuckung um, machte mit der schussbereiten Waffe in der Linken sechs seiner kerllangen Schritte auf den Mann hinter sich zu und trat ihm dann überraschend mit dem linken Fuß so arg in die Magengrube, das dieser mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenbrach und am Boden winselte. Jiu Jitsu. Mit der einen Hand hielt Herrka das linke Exemplar von einem Paar giftgrünen Lackpöms fest umschlossen, als hinge sein Leben davon ab. In der Gesäßtasche hatte er einen zusammengeknüllten Zettel, auf dem nichts stand und der nicht wichtig schien. Er weinte und schnappte nach Luft. Es tat der Polizistin, die Perstein den Wink gegeben hatte, Leid. Perstein registrierte erleichtert, dass nicht mehr passiert war.
Nächsten Sonntag: Folge II - Menschlich gesehen