Mensch, Herr Schirrmacher!

Er traut sich ja nicht mal einen kleinen Verweis auf all die autoritären und protofaschistischen Rotzfahnen aus der Mitte der Bourgeoisie. Da schnaubt man doch in Europa nicht erst seit gestern und übrigens auch gern grün hinein.

Parlamentarisch kommen sie mancherorts in Europa über 20 Prozent, stützen sogenannte konservative Regierungen oder sind an ihnen beteiligt. Welchen Rückhalt sie in den alten und neuen EU-Mitgliedsstaaten in der Bevölkerung haben, wage ich gar nicht zu denken – ich persönlich mache nicht erst seit 4 Jahren häufiger damit Bekanntschaft, wenn ich aufs Amt muss oder beim Discounter in Gestalt unverschämter Drängler auf ES treffe: ES, jenes abgestiegene, ob seines unvermittelten und unvorstellbaren Privilegienverlusts beleidigte Bürgertum.

In den Kneipen der Altachtundsechziger wimmelt es seit Jahren von Rotwein süffelnden Sozis, die Scharfmacher wie Sarrazin als den Hüter ihres heiligen Grals halluzinieren oder sich im Suff auch schon mal die RAF zurückwünschen. Die verstehen sich prima.

Auch das traut sich Schirrmacher nicht zu erwähnen: Die nicht erst von Scharfmachern wie Sarrazin, Koch und Konsorten angeheizte Sehnsucht des Bürgers und der Bürgerin nach dem starken Mann, die Auferstehung bar aller Wunder eines zur Fußballweltmeisterschaft Fähnchen schwingenden Nationalismus mit chauvinistischen und kolonialen Grundwerten.

Nicht erst seit der Verflüssigung des anderen deutschen Staates und der Auflösung der SU erblühte die permanente Aushöhlung der bürgerlich parlamentarischen Demokratie und die faktisch weltweite Wiedereinsetzung des Krieges als Mittel der Politik – mit der Unterstützung ehemals sozialdemokratischer Parteien, mit Männern wie Schröder und Blair an ihrer Spitze, ohne Not und vor dem 11. September.

Wer lesen kann, konnte vor der Jahrtausendwende schon lesen, womit die sogenannte Liberalisierung der Märkte noch einhergeht: Nämlich z.B. ganz still und leise und ohne großartigen Widerhall im bürgerlichen Feuilleton mit der Vervielfachung der Renditen aus Kriegswaffen-Geschäften, mit neuem Kolonialismus unter dem Deckmäntelchen von Demokratieexport und Nation-Building nach US-Manier.

Dass Griechenland über seine Verhältnisse lebe, hörten wir auch nicht, als die Regierungen ohne uns zu fragen in unserem Namen im Auftrag der Banken und der Exportwirtschaft großzügig für aberwitzige Rüstungskäufe des NATO-Partners bürgte. Von den anderen Waffendeals mit Despoten ganz zu schweigen.

Diese hübsche Marschmusik klingelt wie ein Tinnitus in meinem Ohr, der mit ein paar kompositorischen Kenntnissen über historische Parallelen schon seit 25 Jahren den selben Tritonus trompetet, aus verlogener Freiheitsrhetorik, neoliberalem Geschwätz von den Selbstregulierungskräften der Märkte und dem ausnahmslos Metapher generierten Wachstumsaussichten für Otto Normalverbraucher, die sich in einem Konstrukt wie dem Bruttosozialprodukt spiegeln. Otto, also wirklich: Freiheit hat es noch nie ohne Gerechtigkeit auch für die Anderen gegeben.

Und wer in unserem Land die knapp zwanzig goldenen Jahre der Freiheitsillusionen ab 1970 nichts davon hören wollte, dass das alles nur auf Kosten der Armen woanders möglich war, wie Sie und die Blattmacher der FAZ vor Ihnen, Genosse Schirmacher, der sollte jetzt nicht so tun als käme er aus dem Mustopp.

Jene Gleichung, die Sie für den Werteverlust der CDU aufmachen, lautet herunter gebrochen: Soziale Marktwirtschaft + neoliberaler Think-Tank + zyklische Krisen des Kapitalismus + bürgerliche Werte = Killerapplikation (erst für die anderen aber eher früher als später auch für die eigenen Leute). Und sie passt eben durchaus nicht nur der CDU sondern auch der Ex-Sozialdemokratie und allen offenen oder verdeckt agierenden Ordoliberalen Europas, wie ein Maßanzug aus Josef Ackermanns Gardrobe.

Vielleicht liegt das daran, dass der traditionsbewusste handwerklich ehrliche Maßschneider in Europa ausgestorben ist, wie der FAZ-Blogger ‚Don Alphonso‘ sicher unterhaltsam darlegen könnte. Vielleicht kommt das aber auch ganz einfach vom Wesen der kapitalistischen Ökonomie, wie es bei Marx und Engels schon ganz gut geschrieben steht. Auch das eine Nuance, die Frank Schirrmacher bei seinem bürgerlichen Weinkrampf vermeidet.

"Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat."
I'm starting to think, that the Left might actually be right