„Mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt)

Wider die Polemik gegen direkte demokratische Beteiligungsformen


Que le pouvoir arrete le pouvoir.
(De L’esprit Des Lois
, Montesquieu)

Was 54 Prozent der Schweizer in ihrer jüngsten Volksabstimmung beschlossen haben, ist gewiss skandalös, aber durchaus kein Grund, sich gegen das Schweizer Modell der direkten Beteiligung an Entscheidungen zu wenden, die andernorts ausschließlich in der Verantwortung der nationalen Parlamente und Regierungen stehen. Das Plebiszit sollte als Korrektiv der Politik begriffen werden, das den Bürgern einerseits wirkliche und direkte demokratische Mitspracherechte einräumt und andererseits die nationalen Regierungen zwingt, sich das anzuhören und umzusetzen, was ihre Bürger wollen, wenn nötig aber auch Gruppen und Parteien auf den Weg der Verfassung und der allgemeinen Übereinkunft gegen Hass, Maßlosigkeit und Willkür zurückzuführen. Dies wäre eine gute, eine akzeptable Führungsrolle von Regierungen und Parlamenten. Diese Formen der Moderation und der Themenforcierung sind grunddemokratische Elemente. Es käme in den Gesellschaften zur direkten, legitim geregelten Auseinandersetzung um Sachthemen, die das Gemeinwohl stark befördern aber auch beschädigen können, wenn wir sie etablierten.

Unabhängig davon, dass das Minarettverbot durch Volksentscheid zustande kam, weil hetzerische Parteien Medien und Menschen mobilisieren und dumpfen Stammtischmief für ihre Machtstreben instrumentalisieren konnten, ist die Entscheidung über das Verbot des Baus von Gebetstürmen in der Schweiz kein endgültig legitimiertes Gesetz, auch weil nationales Regelwerk von der Schweiz, im übernationalen Kontext zu denken und einzulösen ist. Die Rechtmäßigkeit eines Schweizer Verfassungsartikels, der den Bau von Minaretten in der Schweiz untersagt, kann sowohl in der Schweiz, durch erneutes Volksbegehren, als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüft werden.  Die Schweizer Regierung hatte vor dem Volksentscheid wiederholt darauf hingewiesen, ein Verbot verstoße gegen die Schweizer Verfassung und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Artikel 9 der Konvention hält die Religionsfreiheit fest, Artikel 14 das Diskriminierungsverbot.

Zwielichtig ist weiterhin die Rolle der Schweizer Justizministerin, Widmer-Schlumpf in ihrer Mimese.  Bis 2008 war sie noch selbst Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP) , und hat die Verbotsinitiative  nicht gerade zimperlich vorangetrieben. Neuerlich ordnet die Ministerin offenbar ihre Meinung der Staatsraison unter, wenn sie verlauten lässt, ein Minarettverbot stehe im Widerspruch zu den Menschenrechten und gefährde den religiösen Frieden, und weiter: gegen ein Bauverbot, stehe der Rechtsweg offen. Fakt ist hingegen, dass das Minarettverbot nun in die Schweizer Verfassung übernommen wird.  „Der Bau von Minaretten ist verboten“ wird Artikel 72, der das Verhältnis zwischen Religion und Staat regelt, ergänzen. Das Bauverbot für Minarette soll darin als „geeignete Maßnahme zur Wahrung des Friedens zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften“ festgeschrieben werden. Widmer-Schlumpf beeilte sich nach der Volksabstimmung mitzuteilen, der neue Verfassungsartikel sei sofort anwendbar.  Der Regierungschef eines anderen Nichtmitglieds der EU, der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nannte das Ergebnis des Volksentscheids ein Zeichen einer „zunehmenden rassistischen und faschistischen Haltung in Europa“ und ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – wohl gemerkt in Europa!

Wenn die vermehrte Zweitrangigkeit nationaler Parlamente neuerlich durch den wirklich miserabel geratenen Vertrag von Lissabon überhaupt einen Lichtblick lässt, dann vielleicht den, dass unveräußerliche Rechte im europäischen Rahmen nicht verhandelbarer oder aufgeweicht wurden, sondern unveräußerlicher und einklagbarer Konsens bleiben, also auch das Recht auf Freiheit der Religionsausübung.

Aber man muss das auch ganz realistisch sehen: Die Menschen- und Freiheitrechte sind textuell bereits im Rang von Literatur – in uns schon ferner Vergangenheit entstanden – im Hinblick auf die europäische Epoche der Aufklärung und der Revolutionen und den Aufstieg des Bürgertums zur Regierungsmacht in Europa sowie in den von Europäern errichteten Staaten in Übersee.  Elemente dieser literarischen Texte taugen als Präambeln von Verfassungen und Staatsverträgen, als das Grundgemeinsame, das die weitere Konstitution begründet, nicht aber regelt! In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind diese grundlegenden Überreinkünfte, seit sie 1950 in Rom unterzeichnet wurden, nach und nach durch zahlreiche Zusatzprotokolle ergänzt und präzisiert worden. Es gibt eine institutionelle Fortentwicklung der demokratischen Stiftungsgedanken. Eine Weiterentwicklung der Institutionen selbst oder ihrer Steuerungsmechanismen ist seit 1950 nur schwer vorangekommen.

Ohne zu vergessen, dass im Weltmaßstab und im europäischen Rahmen nach Kriegen,Weltkriegen und der Katastrophe des Faschismus einige Institutionen hinzugekommen sind, die auf der Grundlage unveräußerlicher Rechte arbeiten, zur Sanktionierung von Menschenrechtsverstößen wird kodifiziertes Recht benötigt. Polemisierend könnte man sagen, der sinnstiftende Effekt der Menschen- und Freiheitsrechte, die historisch begründet, textuell auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner formuliert blieben, ist längst ein verbaler Nebeneffekt in Festansprachen geworden. Diese sinnstiftende, moralische Basis in den Präambeln, die die Nachfolge rein religiöser Terminologie bei der Konstitution der Gemeinwesen angetreten hat, kann aber in der Praxis der Machtausübung auch in demokratisch verfassten Staaten durchaus zur Disposition stehen, genau wie es einst mit den religiösen und gottesherrlichen Formulierungen geschehen ist. Es hätte auch anders kommen können für die Grundrechte im Vertrag von Lissabon, bei einem wachsenden Einfluss beispielsweise nationalistisch katholischer Parteien in Polen oder neofaschistischer Parteien in Ungarn und Italien, alle drei Länder sind in der EU. Der Türkei hingegen wird, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf  die Menschenrechtspraxis des Landes, eine Mitgliedschaft in der EU weiterhin vorenthalten.

Natürlich mag man beklagen, dass politsiche Entscheidungen von einiger Tragweite heute weltweit und immer häufiger von Richtern und nicht von Politikern getroffen werden müssen. Dies offenbart nicht nur eine Altersschwäche der politischen Kultur gerade in den ehrwürdigen Demokratien. Und es darf den Gesellschaften auf Dauer nicht egal bleiben, wie ihre Berufspolitiker arbeiten, bzw. arbeiten lassen. Denn die Art, wie der politische Alltag heute in Parteien und Parlamenten funktioniert, ist für die notwendigerweise stark zu beschleunigende soziale Weiterentwicklung der Gesellschaften nicht effektiv genug, es ist gerade in den s.g. entwickelten Demokratien viel zu viel Demokratieentwicklung nachzuholen. Im Augenblick produzieren meist uneingestandene Akteure und Funktionsweisen dieser überalterten Verfasstheit nur noch Rückzug und Verdrossenheit, Stagnation und Phantasiestillstand im politischen System.

Das ist zum Teil sicherlich dem Umstand geschuldet, das nach dem Wegfall der Systemkonfrontation eine wesentliche Triebfeder gesellschftlicher Entwicklung fehlt, die aber auch ohnedies, und das wird von den Wegbereitern der radikalen Märkte häufig verdrängt oder gar bestritten, am Ende des 20. Jahrhunderts schon deutliche Materialermüdungserscheinungen aufgewiesen hat. An anderen, weitaus filigraneren und empfindlicheren Triebfedern, die den sozialen Fortschritt unter krisenhaften Bedingungen befördern könnten, wurde schon während der Ära des politischen Aufstiegs der außerparlamentarischen Opposition und ihrer Konstitition als politische Partei der Grünen solange herumgefeilt, bis sie an der falsch verstandenen Definition eines schichtübergreifenden, die Existenz gesellschaftlicher Klassen verleugnenden Konsens zerbrachen. Dies führte zur schrittweisen und deshalb wenig beachteten Zerschlagung solidarischer Sicherungssysteme und gipfelte beispielsweise in dem absurden Dilemma, das Belegschaften mit ihrer Arbeitnehmerbeteiligung an spekulativen Geschäftmodellen freiwillig jene eigentliche Machtposition einer organisierte Arbeitnehmerschaft sieglos auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgten und gegen die wertlose Option marginaler, fast imaginärer Vorteile aus einer Miteigentümerschaft eintauschten. Denn Miteigentümerschaft garantiert nur auf der Basis einer von grundauf solidarisch und demokratisch organisierten Gesellschaft auch ein echtes Mitwirkungsrecht an politischen Entscheidungen.

Diese Basis war in der BRD und in den meisten westeuropäischen Demokratien auch nach der Beendigung des letzten Weltkrieges und der Beseitigung der faschistischen Gewaltherrschaft nicht gegeben. Auch später nicht, als die Befürworter sozialdemokratischer Teilhabemodelle, die den Exegeten der sogenannten sozialen Marktwirtschft nach dem Munde zu reden schienen, abgenickt von der Sozialdemokratie nahestehenden Massengewerkschaften, nicht von unten nach oben moderierten, wie es sich gehört hätte, sondern durch Stellvertreter von oben nach unten bestimmen ließen, wie demokratische Teilhabe für die Arbeitnehmerschaft auszusehen habe. In der Folge wurde auch noch das in den Aufbaujahren mühsam erkämpfte Konstrukt des Klassenausgleichs schrittweise zerschlagen. Die politsche Klasse, die bereits unter der Regierung Brand/Scheel immer häufiger gezwungen war, sich um den reinen Machterhalt zu kümmern, wollte und konnte nun verstärkt die zurate ziehen, die reale (wirtschaftliche) Macht ausübten. Um ihre Wählbarkeit mussten sich die Koalitionäre deshalb noch keine Sorgen machen.

Einseitig und offen ungerecht, rein adminstrabel, zunehmend abhängig von berufsmäßigen Meinungsmachern musste sich das Alttagsgeschäft zwischen den Legislaturen dann zwangsläufig in der ausgedehnten Regierungszeit eines Helmut Kohl entwickeln. Das Prinzip Kohl bediente sich von Anfang an, wie wir schon wieder vergessen haben, obskurer, illegaler Mittel, um seine Mehrheiten zu beschaffen. Wo Input über einen langen Zeitraum einseitig von hochdotierten Berufslobbyisten kommt, die vorrangig stets auf geldwerte Vorteile und langfristiger Planbarkeit strategischer Entscheidungen im Sinne ihrer Auftraggeber optieren, entsteht bei der politische Kaste ein Wahrnehmungsproblem für das Reale, so dass man sich letztlich nur noch von Meinungsforschern berichten lassen kann, was eine Alleinerziehende, von Sozialhilfe lebende Mutter ihrem Nachwuchs auf das Pausenbrot schmieren muss.

Dieser Misstsand dauert an und hat unter der Regierung Schröder/Fischer seine kaum zu überbietende Klimax erreicht. Fortan galten auch scheinbar sinnstiftende Attribute der Koalitionen als obsolet und überholt, die schon in der Regierungszeit Kohl und mit der nicht zu verhinderden Etablierung der außertparlamentarischen Oposition als Partei der Grünen begonnen hatten. Auf die sozialliberale, folgten die Kohl-Ära, danach verschwanden manifesten Begrifflichkeitsfloskeln, um die Position der regierenden Parteien kurz zu beschreiben. Für die Regierungzeit Schröder/Fischer konnten als Beschreibung nur noch die Farben ihrer Parteiemblematik herhalten. Dabei ist es geblieben. Die Regierung, die wir haben, ist schwarz/gelb und nicht christliberal.

Die Auseinandersetzung um unterschiedliche Vorstellungen vom Gemeinwesen wird, wie bisher immer, wenn es um den Ausgleich von Interessen jedweder Couleur ging, in der verfassten parlamentarischen Demokratie, zu eine Lehrstunde für alle werden: die Bürger und deren Repräsentanten, die ja ihre Macht aus guten Gründen nur Kraft des Willens ihreses Souveräns und auf Zeit verliehen bekommen haben.

Die Frage, die sich stellt, nach der blamablen Verführung des Schweizer Wahlvolks mit dem Ergebnis solch plumper Machtentäußerung ihren migrantischen Mitbürgern gegenüber, sollte deshalb nicht lauten, warum oder ob es eine direkte demokratische Beteiligung der Bürger an der Macht geben sollte? Denn das ist jenseits aller Angst vor der Unkontrollierbarkeit von Massenphänomenen der richtige Ansatz für einen Weg aus der Krise der Demokratie. Und führen nicht demokratische Regierungen Kriege, deren weitreichende Folgen auch ein Kabinett nicht kontrollieren kann? Auch wenn sie unablässig beteuern, sie könnten es. Warum sollten sie dann Angst vor plebiszitärer Mitverantwortung während ihrer Regierungszeit haben? Schreckensszenarien, die gegen die direkte Demokratie ins Feld geführt werden, kommen immer genau von denen, die Macht nicht teilen wollen. Wenn in der Schweiz allein die SVP regieren könnte, würde sie sich umgehend gegen Volksabstimmungen aussprechen. Gerade hat sie diese demokratische Errungenschaft mit viel Aufwand instrumentalisiert, um den Grundgehalt ihrer autoritären Gesellschaftsträume in einen Mantel aus Nebel zu hüllen. Das Gespinst wird zerrinnen, sobald die Macht nicht mehr geteilt werden muss. Vielleicht wäre jetzt auch der richtige Zeitpunkt gekommen, die Schweiz einmal wieder daran zu erinnern, dass sie einige entscheidende  Zusatzprotokolle der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bisher entweder nicht unterzeichnet oder  nicht ratifiziert hat.

Warum und in welcher politischen Großwetterlage aber, ist es den hetzerischen Parteien der Schweiz gerade gelungen, vorhandene Fremdenfeindlichkeit zu katalysieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren? Dies wäre zu fragen, und weiter: wie sieht es mit der „neuen Hoffähigkeit des Rassismus“ in Schengen-Europa und außerhalb der Festung aus, und welche Ursachen liegen ihr zugrunde? Wie ist dem offen auftretenden Gefahrenportential autoritärer, rassistischer und faschistischer Idiologien im europäischen Rahmen sofort zu begegnen und wie dem verdeckten?

Allem voran durch Bildung und Erziehung zu demokratischen Werten an der Basis. Wer aber die Kosten für den Erhalt der Demokratie jetzt in Frage stellt oder polemisiert, ist demnach ein Brandstifter. Wer sich einen Dreck um die Bildungschancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger schert, ist ein Brandstifter. Wer die ohnehin spärlichen Mittel zur Reperatur, Instandhaltung und Weiterentwicklung der maroden demokratischen Grundlagen nicht grundsätzlich auf der Habenseite denkt, oder auch nur den Rotstift spitzt mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit produktiver und die Nutzlosigkeit weniger produktiver Menschen in unseren Gesellschaften, ist ein Brandstifter, ein Wegbereiter von Zwang und Gewalt und der Totengräber der Demokratie.

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Demokratie

Literaturempfehlung:Macht und Recht – Machiavelli contra Montesquieu