„Wille und Wahl“ überschreibt Jacob Augstein in seiner Hauspostille „Freitag“ seinen Aufruf an die SPD, „die Macht zu ergreifen“. Was für Töne schwingen da, in welcher Tonart ist die Trommel gestimmt?
Ich verstehe jung Jacobs flammende Rede. Aber: Warum erinnert mich schon die Überschrift an eine Quelle, die mich unbehaglich zurück lässt? „Wille und Wahl“ soll an Nietzsches „Wille zur Macht“ erinnern, die denkbar schlechteste Referenz für einen aufrechten Demokraten. Außerdem vergisst oder verweigert er, bei der s.g. Einigung der linken Kräfte genau hin zu schauen, wie es im Parteiinnern der Grünen und der SPD wirklich ausschaut. Und dann wieder dieses blöde nachgeplapperte BILD reife Gewäsch von Oskars Rachegelüsten.
Fest steht, die SPD hat sehr marginal noch linkes Personal, Otmar Schreiner z.B. kam aus Steinbrücks Wahlwunderkiste nicht einmal als Alibi-Parteilinker sondern lediglich als Alibi-Gewerkschafter. Ob die marginalisierte Parteilinke allerdings während oder nach der Regierungsbildung Oberwasser bekäme, ist mehr als fraglich. Die traditionelle Basis der Sozialdemokratie neigt außerdem eher zu in ihren Augen stabilen, will sagen, autoritären Strukturen in Partei und Staat. Das ist ein zugegeben deutsches Problem, Mischung aus Abneigung gegen Neuerung und Bequemlichkeit. Das große unbeschriebene Blatt sind die heutigen Youngsters in der SPD. Die alten Youngsters kommen in meiner Wahrnehmung seit 1980 vielfach als Karriere orientierte Opportunisten vor, wie in den übrigen Parteien auch. Wie sind die jüngsten Youngsters? Gibt es eine Hand voll Sozialisten unter ihnen? Was wollen die Jusos heute von Partei, Staat und Leben? Man hört so wenig von ihnen, was nicht an ihnen allein liegen muss, sondern ganz gewiss auch mit unserer neoliberal gleichgeschalteten Medienlandschaft zu tun hat.
Selbst der Wandel der FDP von der liberalen Partei Hamm-Brüchers, vielleicht auch Baums zur Partei Möllemanns, Westerwelles und Röslers kam nicht von ungefähr. Ist Lindner noch Liberaler? Die Verkümmerung der liberalen Gliedmaßen zum Steuersenkungsstumpf war nicht zuletzt das Ergebnis eines um Aufmerksamkeit für die eigene Generation und Machtbeteiligung geradezu flehenden Politikstils nach der Wende, der gleichwohl einen Aufstand als Aufstiegshilfe völlig ausklammerte. Der „Aufstand der Anständigen“ ist so ein frommer Wunsch, der im Zweifelsfall vor der Macht der Bajonette zu bestehen hätte, aber schon vor der Macht der alltäglichen Angst um den Arbeitsplatz einknickt. So ist der Stand heute.
Dieser Wandel hat sich zwar unterschiedlich intensiv und zeitlich verschieden aber in allen westdeutschen Parteien exemplarisch abgespielt. In der SPD langsamer als in der CDU, wo Merkel dem Konservatismus das Rückrat recht schnell brechen konnte, indem sie sich einfach weiter am Prinzip Kohl bediente. Sie hatte in der Nachwende-CDU die Wahl, an wem sie sich orientieren wollte – Blüm oder Kohl, Eppelmann oder Biedenkopf. Sie hat das nicht etwa durch DDR-Sozialisation entstandene, sondern überkommene Kuschen vor der Macht, das die deutschen Bürgerlichen ziert, wie nichts sonst, dem streitbaren Konservatismus der katholischen Soziallehre vorgezogen.
Die SPD hat ihrerseits mit der Agenda-Politik die tragende Säule des Sozialen in der sozialdemokratische Tradition abgerissen, nachdem sie vorher schon den Sozialismus aus dem Programm gestrichen hatte. Im Ergebnis fällt sie damit weit hinter das zurück, was mit Hilfe der Arbeiterbewegung als faktischer Macht, Wilhelm und Bismarck abgetrotzt werden konnte. Entschuldigung junger Herr Augstein, aber die SPD ist doch im Augenblick nicht sozialdemokratisch und schon gar nicht links. Auch die Grünen sind nicht links, was sich bei denen abspielt, ist vielleicht links-liberales Theater. Ihr links-liberales Personal war nach dem Ende der Systemkonfrontation schon ziemlich rar und ist nun aufgerieben (Ströbele) oder ausgetreten ( Ditfurth).
Gibt es so etwas wie linkes Potential in der SPD oder bei Bündnis90/Die Grünen? Ich sehe es nicht. Ich sah gerade nur pseudolinkes Schmierentheater vor Wahlen. Was Augsteins altbürgerlicher Vorschlag bedeutete, und ich denke, er weiß, was er fordert: Das „Linksbündnis“ mit einer treibenden Sozialdemokratie, die endlich den „Willen zur Macht“ verkörpert, anstatt nur ihre Pflicht zu erfüllen, und der ökologischen Alibi-Partei, die den Liberalismus erfolgreich kanibalisiert hat, wird zuletzt noch die Partei Die Linke zu einer altbürgerlichen Partei mutieren, die sich selbst genügt und den gesellschaftlichen Input, wie alle übrigen Parteien, gänzlich folgenlos internalisiert. Und dann stimmen endlich ausnahmslos alle den Kriegskrediten zu, weil es patriotisch ist…
Egoistische, Karriere orientierte, konsensuale Handlungshemmung ist das individuelle Prinzip in den überkommenen Apparaten mit ihrem modernem Anstrich, der leider langsamer abbröckelt, als der Meeresspiegel steigt. Das desavouiert die lebensnotwendige Weiterentwicklung der Demokratie als eigentliches Projekt der Moderne – in vollendetem Bewusstsein für die kommenden ökologischen, sozialen und technologischen Katastrophen. So etwas passiert, wenn man eigentlich ganz auf Nietzsche gründet aber im Feuilleton auch Marx toll finden darf. Und das ist nicht links, sondern heuchlerisch oder blind.
Zum besseren Linkssein verhelfen SPD und Linken eine meinetwegen unterschiedlich ausdifferenzierte Empathiefähigkeit für die durch die herrschende sozialen Apartheid Ausgegrenzten und Benachteiligten, was Jacob Augstein zweifellos weniger interessiert. Deshalb wäre die Koalition meiner Wahl bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen in den Köpfen schwarz/grün. Nur eine starke linke Opposition hat die Chance ihr Profil zu schärfen, Meinungshoheit zu gewinnen und so gestärkt nach der nächsten Wahl eine kompromisslos linke Bundesregierung zu stellen, die durch eine linke Mehrheit in den Köpfen und bei der Stimmauszählung legitimiert wird. Ich wünsche mir nichts mehr, als eine solche wirkliche linke Mehrheit.