Um Ihnen einen kurzen, wirklich sehr unvollständigen Eindruck davon zu vermitteln, worin sich diese Reminiszenz ergehen könnte, wird es am besten sein, Ihnen meine Nehringstraße so knapp und so präzise wie möglich zu schildern, zu dem Zeitpunkt, als ich, Jahrgang 1958, in der Nehring-Grundschule mein erstes Schuljahr durchlitt. Ich weiß, dass mir das nicht gelingen wird, denn, wie man mir schon in frühester Kindheit bedeutete, neige ich zu ausufernder Schwatzhaftikeit.
Wir schreiben das Jahr 1965. Die Nehring-Grundschule und die Peter Jordan Hilfsschule, wie man das damals nannte, sind in einem knastähnlichen Anstaltskasten aus rotem Backstein untergebracht, der sich weit hinter dem neuen Schulzaun auf dem Grundstück Nehringstraße 10 erstreckt. Davor, zur Straße hin, gibt es einen Exerzierplatz, der Schulhof genannt wird. Die rechte Grundstücksbegrenzung des Schulgeländes bildet eine Backsteinmauer, an der in regelmäßigen Anständen unter einem mit Kreide aufgemaltem Klassenverweis, die Klassen bei Feueralarmübungen und Gefahr von Aufruhr während der Pause, in Reih und Glied anzutreten haben.
„Durchzählen, nun mal Marsch, Marsch, Zack-Zack, oder muss ich erst nachhelfen“, fragt der Herr Burghause, der mit Rommel Spiegeleier auf dem Panzer gebraten hat.
Hinter der Schulhofmauer wiegen sich die langen alten Pappeln geduldig im Winde und noch daneben bilden rostiges Wellblech und verwitterteTeerpappe ungefähr zwischen zweitem und ehemaligen dritten Stockwerk das provisorische Dach einer Ruine, wo sich seit Ewigkeiten in der ersten Etage eine gruselig in rotes Bestrahlungslicht getauchte Ohrenarztpraxis ausbreitet. Huhuhuhu.
Nun, Ruinen solcher Art gibt es zu dieser Zeit noch so einige im Kiez, den man damals noch nicht so nannte. Man hätte diese Ansammlung von Wiederaufbauelend jedoch durchaus Dorf nennen können, denn immerhin gibt es in der Seelingstraße einen leibhaftigen Kuhstall, mit echten Kühen, die man im Dunkeln kaum sieht, denn sie sind schwarz, schwarz, schwarz. Alles ist schwarz in jener Zeit auch die Fingernägel und alles riecht ganz auf seine eigene Art und Weise. Alle pupsen ungeniert. Dort im Stall tauscht man Kartoffelschalen und faules Gemüse gegen Anmachholz oder eben einen Liter Mich, Milchkanne nicht vergessen! Bei Feinkost Bendrick, Nehringstraße 13 gibt es auch noch lose Milch. Beim nach Ansicht meiner Mutter schmuddligen Feinkost Egler, Nehringstraße 11, gibt es nur Milch in Flaschen, dazwischen liegen noch das Süßigkeitengeschäft der geizigen Frau Last, die ihre Kundschaft, die Schulkinder, hasst, und eine Wäscherei. Wenn dort die große Schleuder austrudelt, ziehen manche älteren Leute im Haus Nr. 12 den Kopf ein, weil es pfeift, wie wenn eine Bombe aufs Haus fiele. Womit das abgehakt wäre, fast.
Auf der andren Seite der Nehrigstraße zwischen Seeling und Knobelsdorff, tobt doch gewissermaßen schon das Wirtschaftswunder. Nein, was gibt es dort alles für Geschäfte. Beginnen wir mit den liederlichsten. Da ist ein reiner Herrenfriseur, der hinter dem Laden auch wohnt. Er konnte nur Führerfrisuren und trug selber Hitlerbärtchen, war aber sehr billig – und: konnte gut mit Kindern umgegen, wie es hieß. Verzweifelte Eltern luden ihre blökenden Jünglinge manchmal bei dem Herrenfrisör ab, ohne das ein Haarschnitt zwingend erforderlich gewesen wäre. Der Mann praktizierte sein HJ-werk, soweit ich mich erinnere, bis tief in die 90ger Jahre. Ja vielleicht habe ich Vorurteile, aber da saßen dann nicht selten zukünftige kleiner Machomänner mit deutschem und migrantischem Hintergrund auf dem altmodischen Frisierstuhl und ließen sich vom Obersturmbandführer, wie wir ihn als Kinder heimlich nannten, eine Glatze scheeren. Das war der letzte Schrei. Neben Adolfs Glatzenschneiderei kam dann die ganz schlimme Absturzkneipe „bei Schick“, in der sich der Adel von Suff des ganzen kleinen Dorfes bewegte, zu Füßen der Hohenzollergräber. Wie in Düscherdin Asbachs Lummerland dösen Kriegsversehrte mit dem Kopf auf dem Kneipentisch. Arm- und Beinprotesen sind dort keine Seltenheit. Granatenzitterer erzählen von Stahlingrad. Der gemeine Rentier und Senatspenner und seine Gattin, Frau Braatz gehen dort „bei Schick“ ein und ungern wieder aus, denn für zuhaus ist es immer viel zu früh und für die Handfestigkeiten der andren polizeibekannten Kaschemme in der Danckelmannstraße (heute Dicker Wirt) ist das Rentner-Ehepaar Braatz nicht mehr schlagkräftig genug.
„Mein Mann wa bei de Wasserwerke, der is ihn nischt als een oller Senatspenner. Aba mein Vata, der hat wat Anständijet jelernt, der wa Zimmamann, ja?“ pflegte Frau Braatz auf dem langgestreckten Hof des Hauses Nehringstraße 12 zu brüllen, wenn sie geruhte vor ihrem Gatten die Gaststätte bei Schick zu verlassen. Neben Schick kam der Schuster Jokisch, dessen Frau den Kundenverkehr abwickelte, weshalb der Schuster Jokisch in seiner finsteren Werkstatt eigentlich immer blasser hätte werden müssen. Wurde er aber nicht. Ich mochte den ostpreußischen Schrumpfkopf sehr, denn ich durfte als einziges Kind aus der Straße in der Werkstatt zuschauen, wenn ich nicht schwatzhaft war. Rechts neben Jokisch kam der Bäcker Wilde mit drei oder vier Bäckerskindern, die meine Mutter für sehr naschhaft und ich für sehr freigibig gehalten haben. Wahrscheinlich hat der Laden deshalb zugemacht. Vielleicht aber auch, weil er eben einfach nicht dazwischen passte. Wo zwischen? Zwischen den ostpreußischen Schuster Jokisch, die polnischen Einwanderer Kowalski und die „Drogerie Schlesien“ der drei heimatvertriebenen Schwestern Maaß, bei denen es eine Kaltmangel für einen Groschen und ein reichhaltiges Sortiment an Weihnachtsbaumschmuck zu kaufen gab. Um die Sache schnell abzurunden, wieder daneben gab es Obst und Gemüse und Sauerkraut aus dem Holzfass bei Muttern und Hänschen Krüger und einen Photographen, dann noch ein Papiergeschäft mit Schulheften, Zeitungen, Zigarren in hübschen Holzschachteln und harten Schnäpsen in kleinen Fläschchen. An der Ecke Knobelsdorffstraße war lange gar nichts und dann ein Blumenladen.
Sie sehen, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, ist gar nicht schwer. Erwähnt werden soll noch, dass 1965 in der Nehringstraße Automobile einem siebenten Weltwunder gleichkamen. Parkplatzsorgen gab es jedenfalls überhaupt noch keine. In den schlecht beleuchteten Kellern der Mietskasernen bevorratete man sich zu jener Zeit, die längst vergangen ist, mit Winterkartoffeln und natürlich – mit Holz und Kohlen. Denn jederman hatte Ofenheizung und Angst, dass die Russen Westberlin wieder dicht machen.
Und Kohlen gab es bei Kowalski. Von November bis März herrschte Hochbetrieb auf dem Platz der Kohlenhandlung. Eine der beiden Flügeltüren stand bis abends immer offen. Da hindurch zwängten sich die Kohlenwagen, die zumeist nur von einem Mann gezogen wurden. Auf dem Wagen waren die Brikettkästen gestapelt, deren Inhalt in die Keller oder, bei den „besseren Leute“, in die Kammer im vierten Stock gewuchtet werden mussten. Ein dreckiger Knochenjob. Die frechen Jungs hängten sich auch noch hinten an den Kohlenwagen und ließen sich mitziehen. Aber Kowalski zahlte anständig, und so blieben die Kohlenträger meist länger als einen Winter. Viele Arme, die sich keinen Keller voll Kohlen leisten konnten, kamen ein paar mal die Woche mit alten Kinderwagen oder mit den scheppernden Bollerwagen aus Hamsterfahrtzeiten und holten Briketts und billige Bruchkohle, Eierkohlen, die zum Transport in alte, zur Hälfte aufgesägte Öltonnen gefüllt wurden. Meistens wurden natürlich die Kinder geschickt, denen man auftrug, Kowalski solle die Rechnung in seinem Schuldenbuch vermerken, nur noch dies eine Mal.
Beherrscht wurde das Kowalskische Wunderreich der Heizstoffe von einer außen rotbraun und innen waldgrün angestrichenen flachen Hozbaracke aus, in deren zwei Zimmerchen es stets nach Kohleintopf und Kienspänen roch und in der natürlich zwei Öfchen fröhlich bullerten. Gebündeltes Holz lag in einer Ecke. Wenn man sie hatte, blätterte man die Kohle für die Kohlen bar auf den kleinen Ladentresen der vorderen Barackenstube, der sehr kinderfreundlich, nämlich niedrig war, denn die alten Kowalskis waren wohl kaum länger als ein Meter und sechzig. Ihre Tochter, schien mit fast einssiebzig aus der Art geschlagen. Herr Kowalski trug immer und wirklich immer eine blaue Prinz-Heinich-Schmidt-Schnauze-Mütze, die wegen des Kohlenstaubs freilich nicht mehr blau war sondern anthrazitgrau glitzerte. Frau Kowalski war selten zu sehen, wahrscheinlich kochte sie ununterbrochen Kohlsuppe im hinteren Privatgemach. Irgendwie muss ich hier unbedingt an Knacker denken. Ja, Knacker und Kohlsuppe und Knistern im Ofen und der Geruch nach Kienspänen und die dicke schwefelig muffige Luft der langen Heizungsperioden in meiner Straße. Und Sehnsucht überkommt mich. Eine Zeitmaschine möchte ich und auf Kowalskis Kohlenplatz als Erwachsener schauen, denn als Kind wurde man ja verscheucht, weil man schwatzhaft und neugierig war, und alles immer zu gefährlich.
Kowalskis bunte Katzen jagen derweil flinke Mäuse im Himmel, im Kohlenstaub zwischen der Zentnerwage mit der Zinkblechkiepe, dem rotbraunen alten Kohlentrecker, dem Anthrazitkohlestapel und der Briketthalde die an den schmutzigen Winterhimmel stößt. Und die Dackel von Fräulein Kowalski Junior liegen im Warmen im Körbchen und schlagen nur an wenn ein Kunde kommt während die Kolwalskis im himmlischen Hinterzimmer ewig Mittag machen.
Und wenn ich schön artig die Kohlen auf dem Bollerwagen nachause gebracht habe, geht Vati mit mir kurz vor Ladenschluss zu Rogacki in der Wilmersdorfer und wir kaufen uns ein kleines Stückchen Räucheraal für das Abendbrot, dass wir billiger kriegen, weil gleich zusammengepackt wird. Das können wir beide in der Küche ganz alleine essen, denn Muttti mag keinen Fisch, hähä. „Mutti, warum ekelst du dich vor Fisch?“ „Sei still,“ sagt Vati laut, damit es Mutti hört, „sonst sperrt dich Mutti im Keller ein.“ „Hah, hah, hah,“ sagt Mutti vom Bügelbrett aus, bevor sie bei Frau Kuschinski putzen geht. Im Radio läuft die RIAS-Schlagerparade und Rogacki und Kuschinski und Kowalski sind für mich alles urdeutsche Namen.