Kaffeehaus mit Jazzgeklimper

Kurz vor dem vollendeten Hinüberdämmern in das Land des kleinen Todes besuchte mich gestern Nacht ein alter Bekannter, der mir seit der glücklichen Zeit in meinem bayerischen Exil zum dritte Mal seine Aufwartung in Berlin macht: Der Traum vom Kaffeehaus mit Jazzgeklimper.

Gemütlichkeit am Flughafen FJS, Foto: AQ!, Wolfram Haack, 2010

Dramolett Nr. 2

Szene 1

Scheiben eines Cafés mit einer geschwungenen Aufschrift im Stil der 50ger „Simsalabim“, gardinenverhangen. Starre Silhuetten von Paartänzern, dazwischen immer an der selben Stelle eine Saxophonistensilhuette eine Schlagzeugersilhuette. Dazu das Geräusch einer mittelmäßig befahrenen Straße. Geräusch eines einparkenden Autos. Autotür wird zugeknallt. Lichtwechsel. Tür im Innern einer Bar öffnet sich. Wir sehen an einem Tisch eine Person eine großformatige Zeitung lesen und hören die Jazzmusik der Silhouetten. Über dem Tisch, der links der Bühnenmitte etwas weiter hinten steht, hängt ein Erhängter, auf dessen Schuhen zwei Kerzen brennen.

Autofahrer: Scheiße, das Licht.

Autofahrer geht wieder hinaus und läßt die Tür offen stehn. Zeitungsleser, schaut kurz auf den Erhängten dann wieder in die Zeitung.

Zeitungsleser: Das war keine gute Idee.

Wir hören eine Feuerwehrsirene und danach einen Autounfall, als die Sirene direkt vor der Bar angekommen ist. Der Zeitungsleser steht auf, in der Hand die Zeitung, und schließt die Tür. Er seufzt und setzt sich an einen Tisch weiter hinten. Die Jazzmusik endet.

Zeitungsleser: Meine Herr’n.

Szene 2

Tische weg. Leere Bühne nur der Erhängte hängt in der Mitte. Zwei Männer, einer mit Glatze der andere mit Sonnenbrille. Eine Mordswumme im Anschlag. Beide tun sie so, als müssten sie sich Manndeckung geben.

Glatze: Aufschneider. (Er duckt sich plötzlich.) Deckung, du Arschgesicht! (Die Sonnenbrille geht sofort in Deckung.) So, die Gefahr ist vorüber.

Sonnenbrille: Man bräuchte eine Leiter, so eine Sicherheitsleiter mit TÜV.

Glatze: Dünnpfiff. Da vorn ist ein guter Platz für mich. Wir zählen die Entfernung ab.

Vom Erhängten aus misst Glatze die Schritte, laut mitzählend, bis zum vorderen rechten Bühnenrand. Die Sonnenbrille folgt der Glatze dicht und zählt leise hinterdrein.

Glatze: Du musst natürlich auf die andere Seite, gleicher Abstand. (Er geht nahe an die Sonnenbrille heran.) Mein Gott, bist du aber hässlich. (Er zählt weiter, während die Sonnenbrille stehenbleibt und die Sonnenbrille abnimmt.) Fünfzehn, das Alter in dem du stehengeblieben bist.

Die Sonnenbrille geht schnell zum Erhängten, misst schnell mitzählend 15 Schritte zur linken Bühnenhälfte ab und kommt dort zum Stehen. Gleichzeitig stellen sich beide Männer mit der Waffe im Anschlag in Schussposition. Sie zielen auf den Strick des Erhängten. Lichtwechsel. Nur der Erhängte ist noch zu sehen. Drei Schüsse fallen regelmäßig nacheinander. Ein Mälzel-Metronom klackert dazu Andante. Ein letzter Schuss, der Erhängte fällt rumpelnd zu Boden.

Glatze: Zufall, Arschgesicht.

Szene 3

Die Glatze, tadellos gekleidet, jetzt als Geschäftsführer einer belebten Bar, in der eine Jazzkapelle spielt. Der Tisch genau in der Mitte ist leer. Ein RESERVIERT -Schild steht darauf. Ein juveniler Alter blinzelt mit den Augen, weil Scheinwerfer eines Spots ihn blenden. Er hantiert mit einem Strick, der von der Decke hängt.

Glatze: Nun lassen sie schon, ich mach das selbst. Alles muss man selbst erledigen. Geh’n sie mal zum Eingang. Wenn die kommen, begleiten sie die sofort an diesen Tisch. Na dalli, dalli – schriftlich kriegen sie’s nicht.

Die Glatze zieht am Strick und so den Gehängten über dem Mitteltisch direkt in den Spot, der den Alten geblendet hatte. Ein Zeitungsjunge geht zwischen den Tischen umher, er ruft aus.

Zeitungsjunge: Der augenblickliche Tod vieler mächtiger Feinde, Viehzüchter, Parlamentsmitglieder, Mitglieder ständiger Ausschüsse wird gemeldet. Zahlreiche Häuser werden dem Erdboden gleichgemacht. Die Bewohner werden in Kisten und Fässern untergebracht.

Der juvenile Alte geleitet den Zeitungsleser zum reservierten Tisch, wo der Erhängte hängt und die Glatze wartet.

Der juvenile Alte: Bitte sehr, Mr. James.

Glatze: Mr. James, es ist mir eine große Ehre sie hier…

James: Ja, ja, ja, schon gut.

Glatze: Heute ganz ohne Zeitung?

Glatze lacht gezwungen. James setzt sich.

James: Ich bin die Zeitung… Ha, ha., ha, ha. (James lacht überbürdet.) Würden sie die Kapelle bitten, etwas lyrischere Stücke zu spielen, sobald Mrs. Samuels eintrifft?

Glatze: Selbstverständlich.

Glatze macht der Kapelle ein Zeichen. Die Kapelle spielt Liebesleid von Kreisler mit Saxophon und Klavier.

James resigniert: Nicht doch jetzt schon. Bringen sie mir kalte Milch!

Die lange Mrs. Samuels kommt in einem kleinen Schwarzen über der Schulter lässig eine Nerzstola, wird vom juvenilen Alten zum Tisch geleitet. Sie hat eine zerknitterte Papiereinkaufstüte aus dem Supermarkt bei sich. Glatze hat sie noch nicht entdeckt und bietet James eine Zigarre an.

Glatze: Henry Clay, noch von meinem Vater…

James: Lassen sie das, sie sollten lieber seine Arbeitermütze tragen. Und die Milch in einer Tasse, wenn ich bitten darf.

Glatze lacht verschämt und wird noch lächerlicher. Dann bemerkt er Mrs. Samuels.

Glatze: Mrs. Samuels, es ist mir eine Ehre, sie und Mr. James einmal beide gleichzeitig im Simsalabim bewirten, was sag ich verwöhnen zu dürfen.

Mrs. Samuels: Infinitiv und zu –  pfui! Diese Infinitive, so nah beieinander… bewirten und dürfen, Sie dürfen!

Sie reicht dem juvenilen Alten die Papiertüte und lässt sich elegant in den Sessel fallen, den der Alte ihr wegen der Tüte nur sehr ungeschickt zurechtrücken kann.

Juveniler Alter geht ab um die Milch zu holen: Wie meinen?

James: Du könntest mich ruhig anständig begrüßen.

Mrs. Samuels: Ich begrüße Dich jedesmal, und Du registrierst mich jedesmal ebensowenig, wie deine anständigsten Damenbekanntschaften.

James: Dann hälst Dich also für eine meiner anständigen Damenbekanntschaften. Nicht mehr und nicht weniger.

Mrs. Samuels: Ich sehe an Deinem Gesichtsausdruck, dass Du gleich zornig werden wirst. Freu’ dich doch einfach, dass ich Dich ertrage.

Der Alte bringt einen Krug Milch und stellt ihn vor James ab.

James: Ich bin nicht zornig. (zornig zum Alten) Ich hatte gesagt: in einer Tasse.

Juveniler Alter: Mr. Glatze dachte, ein Krug wäre vielleicht mehr der Hit.

James: Können sie nicht selber denken, Mensch? Wenn nun ein Photograph kommt und mich mit dem Krug photographiert – während ich Milch aus einem Krug trinke – über mir hat sich ein Mann erhängt – das gibt wohl eine schöne Bildunterschrift.

Mrs. Samuels: James am Ende -seine Auflagen wie lauwarme Milch. Es ist schon gut. Bringen sie ihm eine Tasse.

Juveniler Alter: Aber gehören ihnen nicht sowieso alle Zeitungen, Mr. James? Da können Sie doch bestimmen, was unter den Bildern steht.

James: Ich kann nicht alles selber machen, lieber Mann. Und mir gehören auch nicht alle Zeitungen. Das würde sich nicht rentieren.

Juveniler Alter: Wegen der Personalkosten?

James schluckt: Die meisten Kosten verursachen – (Er verschluckt sich und muss husten.)

Mrs. Samuels: Seine Damenbekanntschaften. Bringen sie mir bitte zwei große Essteller, zwei mal Stäbchen – nein einmal Stäbchen und einmal Messer und Gabel für Herrn James.

Mrs. Samuels erbittet mit einer Kopfbewegung die Tüte, die der Alte aus irgendeinem Grund die ganze Zeit über umständlich in der Hand gehalten hat. Man sieht noch wie Mrs. Samuels aus der Papiertüte raffiniert verpackte asiatische Fresspackete fingert und auf den Tisch stellt. Lichtwechsel.

Der Mitteltisch ist im Dunkeln nur der Erhängte ist beleuchtet. Die Musik verstummt. Man hört Töpfe- und Geschirrgeklapper und Glatze aus dem Off.

Glatze: Mr. James Vater war Schafzüchter.

James deutet auf den Erhängten: Letztes Mal brannten Kerzen auf seinen Schuhen.

Mrs. Samuels lacht zweimal kurz und laut auf.

VORHANG