Graumanns Kellererinnerungen

Einige alte Leute,  erinnern sich kaum an ihr kürzere Zeit zurückliegendes Leben. Vielmehr sehen sie ganz deutlich vor sich, was Kindheit und Jugend ihnen bedeutet haben. Sie erinnern sich wohl an ihre erste Liebe, nicht aber an den Tod ihres späteren Lebenspartners.

Die Sommer auf dem Hof der Mietskaserne kamen Graumann unerinnert wieder. Wie war es möglich, dass sie plötzlich wieder da waren, oder hatte es sie die ganze Zeit über gegeben und er hatte sie nicht bemerkt? Jetzt empfand er sie so stark mit ihren trägen Geräuschen, dem Geruch nach Gewitter, ihrem speziellen Nachmittagslicht – und er erzählte jedem, der es wissen wollte, von diesen Sommern. Sie kehrten wieder und existierten, einbalsamiert in schauderhafte Erinnerungen, als  Ausdruck kindlicher Neugier in seinem Gedächtnis. In einem Sommer kehrten die alten Sommer als reales Wetter  zurück. 30 Jahre lang hatte es sie nicht für ihn gegeben.

Es ist viel zu hell hier, dachte Graumann, und zu laut auch. Ich werde die Nacht abwarten, wenn alles schläft und Abermillionen Geschichten durch die Luft geistern. Krähenträume, Maßlosigkeiten, enorme Korrekturen  schwerwiegender unbedeutender Lebensläufe, die wahren Leben und die Leben der Toten, die noch in den Köpfen funken und ihr Recht wollen. Der Schlaf gibt allen Recht. Und die Träume verschaffen sich Einlass, als würde die Operndiva in einem erstklassigen aber überfüllten Restaurant um einen Platz bitten, an dem man sie ungestört ihre Malzeit einnehmen lässt. Man würde sie in der Mitte des Raumes platzieren und einen Paravent um sie herum aufbauen. Damit die zudringliche Masse sich die Speisenfolge der Diva nicht zusammenreimen kann, würde alles, was aufzutragen ist, in verschiedengroßen zierlich schwarz lackierten japanischen Schachteln transportiert.

Die Träume wollen beachtet sein. Sie leben ihr eigenes Leben an einem mysteriösen Ort, einem zeitlose Ort, an dem die Kindheit weilt: das so genannte ganze Zimmer einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung.

Licht kommt fast nicht hinein, in die Wohnungen im erster Stock, 2. Seitenflügel. Links die elterliche, rechts die der Tante. Vom in die Länge sich ziehenden Hof gehen links und rechts jeweils zwei Seitenflügel ab. Hinten ist ein Gartenhaus mit größeren Wohnungen auf der rechten Seite. Da wohnen etwas begütertere Familien,  die sich darauf aber nichts einbilden. Sie reden mit allen. Eigentlich fast alle reden mit fast allen. Wenn man sich gestritten hat, sagt man das Begrüßungswort mit dem unmissverständlichen Unterton. „Tach!“ Mit Kindern wird gemeckert, aber zu Kindern ist keiner wirklich böse. Nur die Kinder untereinander sind böse zu sich in ihrer eigenen Welt. In ihrer Kinderwelt hinter der großen Eingangstür zum Hof die Einen, auf der Straße beim Buckerspielen und an der Turnstange im Park die Anderen.

Zwei Besonderheiten hat das Gartenhaus: Auf der linken Seite gemauerte Balkons, die übers Eck gehen auch im Paterre. Und links neben der Tür zum Aufgang, die Tür zum Keller unterm Gartenhaus. Die großen, groben Kellerschlüssel werden von einer Hanfstrippe zusammengehalten, an der ein ausgekochter Markknochen hängt. Man muss ihn bei Frau Veit, der Hauswartsfrau, abholen. Durch den Keller führt ein Gang zur Rückseite des Gartenhauses. Das eine elektrische Licht ist meistens kaputt. Man muss sich eine Kerze mitnehmen, die ausgeht, wenn man nicht aufpasst. Wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben kommt einem die Kerze verteufelt hell vor. Nach einer Ewigkeit schimmert vom anderen Ende des Ganges her ein spärliches Licht: Das kleine, blasse Fenster der Tür am Ende der Treppe. Sie weist in ein Gebiet, wo Tote mehrerer Leben und Jahrhunderte umherhuschen. Wohl gibt es keine Gräber hinterm Haus, aber dies ist gewiss die Ruhstätte von Gebeinen. Darunter die Schädel der Toten , die in den Bombennächten gestorben sind, von denen die Alten immer wieder erzählen. Jedenfalls liegt es in der Luft, als würden Gespenster dich warnen: „Hör auf mit dem Teppichklopfen. Wecke mich nicht; ich träume.“

Die jährlich wiederkehrende, ritualisierte Reinigung der Teppiche  im Frühling und im Herbst. Die Teppiche, die wir ein Leben lang treten und die uns überleben. Ein Reinigungsritual muss den Tod hinterm Haus besiegen. In jenem Augenblick würde er das Kind ereilen, da die Stille Oberhand gewönne. Ein Motiv, das schwächlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart weht. Deshalb ist es nötig, sich zu erinnern: als würde, wie Rückkehrer behaupten, im Sterben das Leben ein zweites mal vorüber ziehen.

Das ganze Zimmer nach Süden gelegen, in pompösem neoklassizistischem Stil möbliert. Zwei Betten, der Länge nach aneinander gereiht,  füllen die ganze Breite einer Zimmerwand, wenn man durch die Tür eintritt. In der Mitte des Zimmers ein riesiger, nicht ausgezogener, Tisch mit gedrechselten Beinen. Alte Zeitschriften liegen darauf. Vielleicht auch Packpapier ein Schuhkarton und Hanfstrippe, wenn gerade Pakete für Verwandtschaft  in Sangerhausen geschnürt werden sollen. Sangerhausen im unerreichbaren Osten, wo ebenso unerreichbar die echten Großeltern sind, die einen abgeschrieben haben, sonst hätte man nicht zurück gemusst als knapp zweijähriges Kind. Aus der havelländischen Kleinstadt zur jungen Mutter nach Berlin. Dramatische Übergabe des Jungen am Bahnhof Friedrichstraße am 11. oder 12. August 1961. 13081961 ein Password.

Die Tante Kotze, ja sie hieß so, in ihrem ganzen Zimmer ist eine Nenntante, bei der das inzwischen fünfjährigen Kind deponiert wird, wenn beide Eltern arbeiten. Sie ist älter als die Großmutter, aber diesen Unterschied bemerkt das Kind nicht. Tante Kotze ist gegen das Kind machtlos. Sie soll immer berichten, ob es auch artig war. Selten petzt sie, was ihr Verdruss bereitet hat. Sie selbst hat keine Kinder nur die Geschwister in Sangerhausen und deren Kinder und Enkel, denen sie Päckchen schickt. Als Dienstmädchen kam sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin genauso wie viele Mädchen aus der Provinz und vom Lande. Genau wie auch eine jüngere Schwester der Großmutter des Kindes, das sie zu beaufsichtigen hat.  Tante Kotze pflegte die leukämiekranke Frau eines gewissen Herrn Haacke und wohnte im halben Zimmer. Als die Frau verstarb kam zu dem Namensschild von Otto Haacke an der Wohnungstür das der thüringischen Dienstmagd Emilie Kotze. Vielleicht wurden sie ein Paar, der Witwer und die Dienstmagd. Emilie überlebte zwei Weltkriege eine Inflation, drei Währungsreformen und zum Schluss auch Otto Haacke. Sie hatte sich an ein Leben zu zweit gewöhnt, als er starb.

Das Kind war anstrengend. Es erinnerte sie an etwas, dass sie in der Düsternis der Einsamkeit vergessen hatte, wie man ein altes Kaffeesieb vergisst, wenn man ein neues angeschafft hat: dass nämlich alles seine Ordnung haben müsse mit dem Lauf der Welt und deshalb auch sie selbst in diese Ordnung eingeboren sei.

Der schwere große Tisch, dahinter ein Scheselong auf dem sich Berge alter Zeitschriften türmen. Es wird nie benutzt. Auch in Ottos verwaistem Bett, gleich neben der Tür, Zeitschriften. Die Tante schläft im Bett vor dem Fenster. Dort hängt von der Wand eine alte ehemals gelblich goldene Kordel mit Trotteln am Ende. Zieht man daran, geht der große beschirmte Deckenleuchter an und aus. Auf dem Nachtschränkchen bei der Tante Bett eine Nachttischlampe aus den 50gern. An der Kordel darf eigentlich nicht  mehr gezogen werden, damit nichts kaputt geht. Das etwas kaputt geht, wenn man damit spielt, ist ein häufiges aber nicht sehr überzeugendes Argument.

Es gibt da einen aufregenden elektrischen Apparat, der in einem polierten Buchenkästchen steckt. Damit verpassten sie der Frau Haacke Elektroschocks. Ist also gefährlich und darf nicht mit gespielt werden. Aber warum? Solange der Stecker nicht in der Steckdose steckt? Das Kind darf den Apparat untersuchen, will sagen zerlegen. Die Tante keift hoch und auf sächsisch. „Ne, ne.“ Dann ergibt sie sich in ihr Schicksal.

Das Kind findet in Schränken alte Leibwäsche, grobe Leinenstoffe für Übergardienen und ausgeblichene Reste eines bunten Kittels.  Die werden mit Hammer und Nagel rund um den Tisch befestigt. Ein eigenes Reich. Die Tante duldet es. In einem alten blechernen Thermosbecher brutzeln kleine Dauerwurststücke über einer Kerze. Alles unter dem Tisch. Die Tante duldet es. Sie harrt derweil auf ihrem Hocker, wo sie durch bloßes Sitzen Stofftaschentücher, Küchenhandtücher, Leibwäsche und Socken und sogar Servierten zwischen zwei massiven Polstern bügelt. Die alte Kohleplätte auf der Küchenmaschine braucht fast nie benutzt zu werden. Ein schöner Trick, denkt schon das Kind. Heute würde man das vermutlich „nachhaltig sitzen“ nennen.

Worüber hat man gesprochen? Alltägliches. Das alte Leute schneller sterben als Kinder, das man die Wahrheit sagen muss, wenn man etwas ausgefressen hat. Wen man im Haus leiden kann und wen nicht, warum die Eltern arbeiten müssen, wie man saure Milch macht, wie viel Pfenniglutscher man für einen Groschen im Süßigkeiten – Laden von Frau Last kriegt.

Die Pflichten des Kindes sind: Mit dem schweren alten Teppichroller umgehen, später auch Gardinen an und ab machen. Die Tante zur Post begleiten, und noch zwei Ostpakete tragen, die nicht mehr in den riesigen Rucksack passen, diesem wichtigsten Werkzeug vergangener doch immer noch gegenwärtiger Hamsterfahrten. Die Not hat den Lebensstil nachhaltig geprägt

Als das Kind schreiben kann, füllt es die Paketkarten und Aufkleber aus. Im Winter werden die Balkonutensilien auf dem Hängeboden hinterm Klo verstaut, im Frühjahr wieder runtergeholt. Diese sind: eine Fußbank und ein altes emailliertes Wassergefäß, das mal zum Waschgeschirr auf der Frisierkommode mit dem riesigen gerahmten Spiegel gehörte. Er leuchtet an der Wand zwischen Balkontür und  dem Fenster hinter Emilies Bett. In dem Gefäß steht, mit Eierschalen versetzt, das Blumenwasser über Nacht ab.

Auch der Balkon ist dunkel. Umrankt von wildem Wein. In den Blumenkästen wachsen anspruchslose Wicken und fette Henne vor sich hin. Das Kind bekommt auch Geld. Um mit der verbeulten Milchkanne im Kuhstall auf dem Hinterhof  zwei Straßen weiter Milch zu holen. Dies sind die Pflichten des Kindes bei der alten Tante Kotze gewesen.

Der Mann der Hauswartsfrau, Herr Veit, schickt seine Tochter und das Kind mit einer Milchkanne an Sonntagen zuweilen auch nach Bier, das in der Kneipe aus dem Hahn an der Theke hineingezapft wird. Ganz langsam. Damit nicht soviel Schaum in die Kanne läuft.

Je länger Herr Veit wartet, desto schlechter wird die Stimmung im Haushalt. Wenn die Milchkanne mit dem Bier endlich ankommt setzt es für die Tochter ein paar Kopfnüsse, weil sie getrödelt hat. Ihr kleiner Bruder genießt es, wenn sie den Zorn des Vaters abbekommt. Sie ist nicht seine leibliche Tochter und noch dazu wird sie einmal eine Frau sein, die ihren eigenen Willen hat. Das Kind tröstet seine Freundin. Die Spannungen in seinem Elternhaus haben die gleiche Ursache. Doch das Kind ahnt nichts davon.

Die u-förmige Unterkellerung von Vorderhaus und Seitenflügeln wird mit wenigen 15 Watt Glühbirnen  beleuchtet. An einer Stelle, genau hinter einer abgerundeten, lukenartigen Metalltür schreinert der Vater. Die Schutzvorrichtung hat zwei riesige Verschlusshebel oben und unten. In deutscher Druckschrift der verblichene Schriftzug Luftschutz . Die lange Hobelbank ist ganz aus Holz, kein einziger Nagel, kein Beschlag. Die Schraubvorrichtung,  mit der man das Werkstück einspannt, ganz aus Holz. In der Nähe der Kellerverschlag, in dem alle Arten von Holzabfällen lagern, die zu kleinen ansehnlichen Gebrauchsgegenständen verarbeitet werden. Weggeschmissen wird nichts.

Das ist kein gutes Geschäft aber ein kleines Zubrot: Vater baut die Einrichtung des Süßigkeiten- Ladens der Frau Last. Der Erlös aus der ungeliebten Arbeit ist für die Hobbys des Vaters: ein Ruderboot ein Fahrrad mit französischer Dreigangschaltung, ein Tonbandgerät, eine Agfa Spiegelreflex-Kamera. Es gibt Streit mit der Frau, die das Geld lieber für „wichtigere Sachen“ ausgeben würde. Für sie gehören die erschreinerten Groschen zum Familieneinkommen. Wenigstens säuft er nicht, wie all die anderen Männer in dem großen Hinterhaus. Sie schläft nicht mit ihm. Er ist nicht der Vater ihres Kindes. Er möchte mit ihr schlafen und hofft, es möge sich eines Tages ihr  Ekel geben, dass sie keinen Mann mehr an sich lässt, nach der einen, ersten katastrophalen  Erfahrung. Wenn er ihr ein Kind gemacht hat, wird sie schon spuren. Er ist ein schöner Kerl.

„Und man spricht von eines Mannes Schönheit.“ Er ist ein schöner Mann, wie behauptet wird. Er könnte Frauen haben doch sie lässt ihn und keinen wirklich an sich. Ihr Sohn, der nicht sein Kind ist, steht neben der Hobelbank und soll ihm Werkzeug reichen. Und der strafende protestantische Gott seiner Eltern lauert zornig hinter der falschen Vaterschaft und lässt ihm keine Wahl. Man hat barmherzig zu sein. Die Schande der Mutter wird auf ewig begraben, wie die Toten hinterm Haus. Später wird man das Unheil langsam vergessen. Das Kind ahnt von all dem nichts.

Das Kind soll auf einem selbst gezimmerten Küchentisch gestanden und klassische Musik dirigiert haben. Die Mutter hätte ihm heimlich zugesehen. Sie ist und fördert alles, was sie selbst versteht. Sie ist musikalisch, singt mit dem Kind beim Bügeln in der engen Küche Schlager nach, die aus dem Batterieradio dröhnen, das der Mann angeschafft hat, der nicht der Vater ihres Kindes ist. RIAS Schlagerparade. Sie fördert, was das Kind in eine höhere Kaste bringen könnte. Sie ist intellektuell begabt. Ihre Ausbildung zur Berufsschullehrerin in der jungen DDR  hat in Adenauers Republik nicht nur keinen Wert, sie macht sie in den Augen der  Wirtschaftswundergeneration sogar verdächtig. Das sie als Tochter eines NSDAP-Mitglieds studieren durfte, vergisst sie der DDR nicht. Ihr Stolz zieht eine Rückkehr dorthin jedoch nie in Betracht. Sie spricht mit dem Kind in der Erwachsenensprache. Das fördert einen Sprachschatz und eine Ausdrucksweise, die Außenstehende bei einem Jungen aus der Unterschicht für altklug halten. Der unterhält sich dementsprechend auf seinem Niveau, in Erwachsenensprache- mit der Gemüsehändlerin, Frau Krüger, der Frau Bendrick aus dem Milchladen, den schlesischen Schwestern Maas, die die „Drogerie Schlesien“ betreiben, in der es die billige Kaltmangel für einen Groschen die Stunde gibt. Mit Frau Musäus, Frau Arndt und dem alten Herrn Augustin aus dem Hinterhof, dessen Frau am Sonnabend in der Küchenmaschine einen Kuchen bäckt. Selbst mit der Besitzerin des Süßigkeitenladens, wo es dem Vater bei der Montage der Regale geholfen hat, versucht es das Kind Graumann.

„Gib mir die Kneifzange, nein nicht die Flachzange, verdammt,“ flucht der Vater. Aber Tante Last, wie sie sich nennen lässt, hat alle Kinder satt – wie sie auf dem Weg von und zu der nahe gelegenen Schule in Horden ihren Laden stürmen, und um einen Groschen Zuckerkram ihre wertvolle Zeit stehlen. Frau Last klagt dem Kind des öfteren, dass sie nicht reich werden würde und schenkt ihm nichts. „Na, möchtest du denn jetzt lieber ein Pfenniglutscherchen oder so eine saure Untertasse, wo du dem Vati sooo schön geholfen hast?“ Der Vater bezahlt die Brauseuntertassen. „Da macht man Brrrr von mein Hosenscheißerchen, sauer macht lustig, hahaha.“

Eine höhere Macht lässt sie in Kindersprache brabbeln, als wäre sie schwachsinnig. Ihr Lachen ist falsch und geizig. Sie ist eine böse Hexe. „Na ja, vielleicht hat sie es schwer“, versucht der Vater zu erklären.