Graumanns dringlichstes Vorhaben zur Zeit

Für Jürgen

Rico, einen hübschen dürren jungen Mann, der seine Lehre als Bauschlosser gerade beendet hatte, lernte Graumann 1984 in einer Münchner Disco kennen. 1992, als er schon wieder in Berlin lebte und nach München fuhr, um einigen alten Freunden seine Aufwartung zu machen, begegnete Rico ihm in einem Café an der Freiheit. Er war stattlich geworden, kam auf Graumann zu, aber er erkannte ihn offenbar nicht. Er bat um eine Zigarette. „Rico“, fragte Graumann, „erkennst du mich gar nicht?“ – „Zapperlot“, sagte Rico, „der Berliner kommt uns mal besuchen.“

Sie kamen anfangs nur schwer ins Gespräch. Rico erinnerte sich, dass er noch ein Buch von Graumann hätte, Kisch: ‚Der rasende Reporter‘. Daraus gefiel ihm besonders die Geschichte ‚Die Weltumseglung des A Lanna 6‘. Das ist eine Geschichte über ein Flussschiff, das von Prag über die Nordsee nach Pressburg schippern soll. Sie steht in dem Band ganz vorn.

Graumann wusste genau, dass er dieses Büchlein erst 1992 erworben hatte, dass es in seinen Bücherregalen in Berlin steht, und er es auch niemals einem flüchtigen Bekannten geliehen hätte, also sagte er: „Das musst du wohl von jemand anderem haben.“ Rico bezweifelte das und war sichtlich geknickt. Graumann dachte, warum hast du das jetzt gesagt? Das war vollkommen überflüssig. Ihm fiel ein, dass ihm Rico damals, vor Jahren, erzählt hatte, sein wichtigstes Vorhaben sei es nicht etwa klüger zu werden, sondern freundlicher. Graumann, der sich durch den Altersunterschied von knappen 5 Jahren für welterfahrener hielt, riet ihm, nicht zu verschwenderisch mit seiner Freundlichkeit umzugehen.

Wie sich 1992 herausstellte, hatte sich Rico nicht an Graumanns Rat gehalten, denn er lud ihn in einem Biergarten in Feldmoching zu einem opulenten zweiten Frühstück mit Weißbier und Wurschtsalat und weißem und rotem Pressack, Radi und allem, was eben so dazu gehört, ein. Am Abend saßen sie immer noch da und waren vom Weißbier hacke. Rico brachte Graumann mit seinem alten BMW trotzdem noch zurück nach Haidhausen, wo er beim ‚Brummel‘ untergekommen war, von dem Graumann auch schon ewig nichts gehört hat.

Kürzlich erfuhr Graumann, dass der Rico Anfang Juli auf der Landstraße mit seinem BMW gegen einen Baum gefahren ist. Er war sofort tot. Gerne würde Graumann lernen, einmal so verschwenderisch mit seiner Freundlichkeit umgehen zu können, wie der Rico oder der Brummel.