Die Legende vom Unglauben – Folge VI

Antike Grammatik

High Doc, the replacement part you wish me to send, is at the moment…..starting translation – ten, nine, eight, seven, six, five, four three, two, one, zero….nicht aufzutreiben. Aber lassen sie die Ohren nicht hängen. Wir haben ja noch über einen Monat Zeit. Das kriegen wir schon hin. Ihre alten binären Daten sind der absolute Hammer, sagt man so? Ich habe meiner Klasse die Bildformate gegeben und sie mal damit rumprobieren lassen. Keiner konnte diese jpg bmp, PNG oder tiff knacken. Dann habe ich das Rätsel aufgelöst – binäre Daten. Wir lachen uns kaputt, sagt man so? Ich hoffe es stört Sie nicht, dass jetzt alle Ihre alten Fotos sehen können. Es ist zwar verboten, aber das schert hier keine Sau, so sagt man bei Ihnen, nicht wahr? Sagt man ’nicht wahr‘ oder wahr, wenn man sagen will, dass es vermutlich wahr sein könnte?

Die transeurasischen Datenknoten sind ja wohl mal wieder total verstopft, was? Na auch gut. Meine Recherchen zum Thema Hydroverstärker zur Sicherheit niederfrequenzmoduliert. Simsalabim da sind sie. Kann natürlich ne Weile dauern. Aber vielleicht kriegen Sie ja auch was über die Optik. Mann, Sie können sich nicht vorstellen, wie heiß das hier ist. Die ganze ZM läuft in Badelatschen, es stinkt fürchterlich nach Nukleol aus der Kühlung. Halten sie mir die Salvia-D-Samen warm. Und hätten sie noch was von dem altmodischen klumpigen Zeug, Agar Agar oder so, damit ich die Dinger auch zum Laufen kriege? Bis bald Doktorchen! Tai Sen Tschen alias Takuan der Zweischneidige grüßt aus der hübschesten Einöde der zivilisationswütigsten Welt.

PS: Ich habe einen undefinierbaren Mitschnitt von einer antiken Kurzwellenfrequenz (unsere Frequenz! 9645 kHz) ausgegraben. Ich wette, sie könne damit was anfangen – wer, wenn nicht sie, sollte noch aus so was schlau werden? Es folgt nun wie immer ein minutenlanger Kehlkopfgesang, in den ich ihre sensiblen Daten untergebracht habe! Ist es nicht wundermild?

Zentrale Mediation

Im Gebiet der ehemaligen Volksrepublik China (bis 2174 der letzte verbliebene Nationalstaat der Erde) gab es ab 2188 eine Gruppe von interdisziplinär arbeitenden Naturwissenschaftlern, die sich zum Bund der NAOM zusammengeschlossen hatte, mit dem Ziel, Streitigkeiten um Ressourcen unter den verbliebenen Großhabitaten Zentralasiens einzudämmen. Den Namen hatten die Gründer dieser Institution von der Maya-Muttergottheit „alaghom naom tzentel“ entlehnt, was ihnen furchtbar verschworen vorkam. Tai Sen Tschen, ein Astronom und Biochemiker hatte zu Beginn des 22. Jahrhunderts Zusammenhänge zwischen neuen kosmologischen und alten biochemischen Strukturmodellen entdeckt, die ihm plausibel genug erschienen, einen Versuch zu wagen, diese Modelle auch mal soziologisch zu induzieren. Er stand aber vor dem kaum lösbaren Problem, dass es zu jener Zeit noch von der alten zentralen Weltwirtschaftsoligarchie ausgehende, streng geregelte Auflagen für die gesamte Kommunikation unter den Habitaten gab. Nach dem wiederholten Zusammenbruch aller kommunikablen Märkte trat an die Stelle frei verhandelbarer Valuten ein Regime weltweiter zentraler Tauschwertfestlegung auf der Basis nanosekundengenauer, alles umfassender Datenermittlung in den am Handel beteiligten Großhabitaten. Dies hatte zur Folge, dass die optischen Datennetze zusammen mit dem bis dahin unreglementierten privaten Traffic an ihre äußerste Grenze stießen. Terrestrische Frequenzen schieden für exakte Datenübermittlung wegen anhaltender magnetischer Sonnenturbulenzen völlig aus. Auf den globalen Ausbau des Glasfasernetzes konntne sich die Oligarchen nicht einigen, weil die einzigen Ingenieure, die dies hätten bewerkstelligen können, sich in einer marktunabhängigen eigenständigen Zunft organisiert hatten, welche dem Anspruch auf territoriale Hoheit eine Absage erteilte, um trotz der mitunter rasant wechselnden Interessenlagen einzelner Habitate, als Person und Handwerker ungehindert reisen zu können – ein Affront in den Augen der zentralen Oligarchie und ihrer dezentralen Handlanger. Ein ungeheuerliches, selbst angemaßtes Privileg.

Also wurde der private Datenverkehr auf ein Mindestmaß gestutzt. Daraufhin kam es zu den Aufständen in Eurasien und Mittelamerika in deren Folge die traditionell stärksten Nahrungsmittelexporte von Mittelamerika in das von diesen Exporten existentiell abhängige Europa jahrzehntelang zum Erliegen kamen. In den überwiegend nicht nahrungsautarken europäischen Großhabitaten starben trotz großzügiger afrikanischer Hilfslieferungen vier Fünftel der Bevölkerung an Unterernährung und deren Folgen. Ab 2133 kam dann zur Abwechslung mal wieder das Eis nach Europa. Während der sogenannten europäischen Miniatureiszeit, die durch atomare Kleinkriege und eine zeitweilige Umkehr des Golfstroms erzeugt worden war, kam es zu Kannibalismus und der Ausprägung einer neuen sadomasochistischen Erweckungsbewegung, deren zentraler Glaubenssatz darin bestand, dass es naturgewollt sei, eine bestimmte Kaste (Karnini) von Menschen zu Nahrungszwecken zu züchten und zu schlachten.

Sämtliche noch verbliebenen nahrungsautarken Habitate mittlerer Größe, von den viel mächtigeren einst als Gemüsekolonien geschmäht, wurden innerhalb von 40 Jahren geplündert oder von Gletschermassen zerstört. Reelle Chancen diesem Wahnsinn zu entkommen hatten nur die in den großen süd- und zentraleuropäischen Wüsten gelegenen, schwer erreichbaren Kleinsthabitate, die vergessen worden waren, weil sie, einer schwer nachvollziehbaren inneren Regung folgend, im Laufe von 150 Jahren jeglichen Datenverkehr zu Großhabitaten eingestellt hatten. Auch sie waren im Prinzip autark. Die Herausforderungen machten ihnen aber um so mehr zu schaffen, als sie auch untereinander nur spärliche Kontakte pflegten, Dies wurde zumeist über ein altes Datenfragment bewerkstelligt, das sich im ehemaligen buddhistischen Zentralarchiv der mongolichen Voksbibliothek versteckte. Die Fragmente enthielten nahezu vollständige Aufzeichnungen eines Blogs vom Anfang des 21. Jahrhunderts, der nach seinem Verbot noch 99 Jahre im Untergrund agierte und den schönen Namen ‚weissgarnix‚ trug. Wir behaupten, dass diese Sotisse mit Fug und Recht unter dem Begriff  ‚bewiesene Blogreinkarnation‘  rangieren darf.

Die NAOM auf der Südhalbkugel hielt es für angeraten ein auf dem Gebiet der Soziologie noch unerprobtes Modell von möglicherweise größerer Tragweite zunächst unter den denkbar drastischsten gesellschaftlichen Bedingungen auf der Nordhalbkugel zu testen. Damit stand die Wahl des Versuchsortes fest: Zentraleuropa.

Gleich zu Beginn des Experimentes wurden versuchsweise alte Funkfrequenzen getestet, um inoffiziell vielleicht auch Kontakt zu einzelnen Individuen aufnehmen zu können. Die erste „Antwort“ kam jedoch über eine Kurzwellenfrequenz, die seit Jahrhunderten aus einem Atombunker unter den Ruinen des Petersdoms in einer Endlosschleife das Ostergeläut im Jahr vor der Zerstörung sendete. Das Oberhaupt der römisch katholischen ehemaligen Weltreligion, der s.g. Heilige Vater hatte die Installation des Senders angeordnet, bevor er mit seiner Gattin, einer umjubelten Invitrotoxikologin, von deren eurasischen Auftraggebern auf eine Mars Basis evakuiert worden war. Sein letzter Amtsakt auf Erden war die Aufhebung des trinitarischen Dogmas und die Rehabilitation einger schwacher Agnostiker.

Der genauer Standort des Senders war jedoch von der Südhalbkugel aus, ohne Kreuzpeilung nicht zu ermitteln. Schwierig gestaltete sich zunächst auch die Kommunikation an sich. Die NAOM hielt zwar einige Tausend Sprachübersetzungsmodule alter zentraleuropäischer Sprachen und Dialekte sowie verschiedene visuelle Kulturcodes einschließlich sämtliche internationaler Morsealphabete vor, doch niemand konnte oder wollte offensichtlich antworten.

Das war eigentlich nicht verwunderlich, denn die Wissenschaftler hatten gar keine Fragen gestellt, sondern aus einer Datenbank für alte europäische Kochrezepte wahllos Daten hinaus geschickt, in der Annahme die Empfänger so für sich einzunehmen, die noch keine oder gemäßigte Kannibalen waren.

Tai Sen Tschen erinnerte sich nach zahllosen zwecklosen Aussendungen an eine Methode, die er selbst irgendwo gelesen hatte und immer, wenn er sich in großen, hallenden Räumen befand, mit an poetischer Begeisterung grenzenden Euphorie praktizierte. „Ein deutsches Frage-Rufspiel, bei dem das Echo eine weitere Person suggeriert, die einen lokalen Würdenträger verächtlich macht …“ So erklärte es seine historisch-soziologische Raritätensammlung:

Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?

Die Antwort aus Zentraleuropa lautete: „Um Wesel ist es nicht schade und um seinen gewesenen Bürgermeister wahrscheinlich noch weniger.“ Dieser Erstkontakt war die Geburtsstunde einer Institution, die weltweit Schule machen sollte und letztlich selbst den Europäern den Weg aus der Barbarei ebnete. Man nannte sie Zentrale Mediation, kurz ZM.