Renate erzählt – Das Ryukyu-Kaninchen
<<Karl war a zierlicher Junge.>>
Auf dem Land, wo es nach dem Weltkrieg weniger Hunger gab als in der Stadt, hielt man den 12jähigen daher für unterernährt, erzählte mir Renate, meine Patientin mit dem Leberfleck unter dem linken Auge, während sie den Korb mit den Eiern auf meinem Schreibtisch abstellte.
<<Se wissen doch Karl, der Erstjeborene vom roten Bürjermeister. Den haben se noch nich auf de Welt geholt Herr Doktor, da war noch da alte Doktor und s war ne schwere Jeburt. De Mutter is daran jestorben.
Der Bürjermeister hats nie verwunden aber er war halt e Kleinbauer und musst wieder heiraten und de Elisabeth hatm auch nie darauf jetriezt, dassa seine Erste nich verjessen konnt. Aba dem Karl hat ses spiern lassen, wie die eijenen Jörn da warn. Und wissen se, einmal hat der so e Kaninchen jehabt, des war sein Ein und Alles, e besondres Kaninchen, und er hat jemeint, s sei aus Japan, weila ja die Phantasie hatte, weila ja, sobald a lesen konnte, Tach un Nacht in de villen Bücher von sein Vater jeschmökert hat – und das sah em aus wie a Kaninchen, wasses nur da in Japan jibt.
Und die Elisabeth hats über Pfingsten geschnappt und jeschlacht und dann kams aufn Teller als Sonntagsbraten. Jab ja nich viel zu beißen seinerzeit. Das hat der Jung der Stiefmutter nich verziehen und er hat jemeint, wenner jroß is tut er nach Japan auswandern, der Karl. Und sein Vater hat ehm versucht zu tresten, aber mit dem warer auch bese und hat drei Tache rein garnischt jejessen. Als er denn groß war, isser wirklich nach Japan, erzähln de Leut. Ob er noch leben tut weiß keiner nich. Na Kaninchen jibt es ja iberall uff de Welt Herr Doktor>>
Wenn man eine Nachricht schnell im Dorf verbreiten wollte, musste man sie nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit der Renate anvertrauen. Als ich ihr die Betäubungsspritze setzte, zuckte sie nicht und unterbrach keinen Augenblick ihre Erzählung. Da sie ihren Mund zum Reden, und damit auch das Gesicht fast gar nicht zu bewegen brauchte, hatte ich keine Schwierigkeit mit der Kanüle zu zielen. Während ich ihren Leberfleck entfernte, erfuhr ich noch, dass der zwölfjährige Karl seit der Schlachtung seines Kaninchens, kein Fleisch mehr zu sich genommen haben soll. Selbst Fisch wäre ihm angeblich seit jener Zeit zuwider gewesen.
Was gäbe ich hier um einen Hasenbraten. Auf meinem Gaumen macht sich ein Geschmack breit, wie Wildbrett. Seit meine Katze Emilie von mir gegangen ist, sah ich kein Säugetier mehr. (Ich habe sie nicht gefressen.) Sie liegt unter dem alten Hollerbusch begraben.
Stellt sich das einer vor? Seit nunmehr 200 Jahren sind meine Bestäubungsinsekten und eine kleine Anura-Population die einzige Fauna, die mir blieb.
Das Leben in Gedanken: Vor etwas mehr als siebzig Jahren hatte ich die bisher letzte leibhaftige Begegnung mit einem anderen Exemplar der Gattung Homo. Es gehörte offensichtlich nicht meiner Art an und konnte nicht einmal sprechen. Ich nehme an, er war ein Gezüchteter, dem es gelungen war, seinen Peinigern zu entkommen. Unsere anfängliche Freude einander gefunden zu haben endete all zu schnell. Uns wurde bewusst, dass jenes todbringende Konkurrenzverhalten, das den Planeten so verwüstet hat, in uns beiden noch so tief eingegraben ist. Da beschlossen wir stillschweigend und voller Scham, uns zu trennen – um nicht Gefahr zu laufen, dass über die Zeit, ein Exemplar das andere töte.
Nun haben wir die praktische Unsterblichkeit – und wozu?