Die Legende vom Unglauben – Folge II

Religion, die nicht weiter auffällig wirkt, war bei uns ein Segen für den Mann, der zweifelt.

Die kluge Elisabeth hatte es so eingerichtet, dass nicht einmal ihr eigener Sohn dem letzten Willen ihres Ehemannes im Wege stehen konnte. Dermaßen im Diesseits abgesichert, reichte das Seelenheil ihres verstorbenen Gatten, eines zum Glauben konvertierten Antitheisten, über ihre eigene Seligkeit hinaus ins Leben. Doch meinen Gast, ihren Stiefsohn, schienen Umstände, die sich dem Vermächtnis seines leiblichen Vaters in den Weg stellen konnten, kaum zu berühren. Im Gegenteil fragte er nun sehr heiter nach einem profanen Stück Brot und einem Glas Wasser. Ich bot ihm, da es ja noch um die Mittagszeit war, von dem Rehgulasch an, das ich gehabt hatte. Doch er lehnte als absoluter Vegetarier selbstverständlich ab. (Was es mit seinem Vegetarismus auf sich hatte, erfuhr ich einige Tage später, als mir eine Patientin in Ermangelung barer Münze ein paar Eier als Honorar übergab, für einen unlängst von mir durchs Skalpell beseitigten Leberfleck unter ihrem linken Auge.) Die Schlafstätte nahm der Kuttenmann in der halben Nacht, trotz meines heftigen Protestes, auf dem gefliesten kalten Boden in der Küche – auf einer Strohmatte, die zu den einzigen Gebrauchsgegenständen gehörte, die er neben einem Löffel und einer Schale mit sich führte.

Kann man sich vorstellen, welches Schreckensgebell meine alte Haushälterin am nächsten Tage anstimmte, als sie der Graue, auf der Strohmatte hockend, offenen Auges begrüßte? Meine treu meckernde Klara war streng katholisch, wie die meisten im Dorf. Ihre einfache Sehnsucht nach Wundern und ihr strikter Aberglaube vertrugen sich gut, wie bei den meisten. Hätte aber der Pfarrer gewusst, dass sie sich vor jeder Mahlzeit nicht nur bekreuzigte und den Mariensermon herunter rasselte, sondern außerdem zur Sicherheit noch den Teller, von dem sie essen wollte, mit dem rechten kleinen Finger einmal rechts und einmal links am Rand antippte – was hätte er, der gern das Turiner Grabtuch zum Gegenstand unbestreitbarer Glaubensmaximen nahm, zu solch heidnischen Praktiken gesagt? Die Gewohnheit mit dem kleinen Finger zu tippen geht nämlich auf den Aberglauben zurück, man könne damit die faulen Winde der Cholera am Tellerrand bannen. Und das am Tisch eines Arztes. Oder wie man auch sagt: Vertraue auf Allah, aber binde dein Kamel an. Wir alle wissen instinktiv, dass die Gesetze der Kausalität gelten. Doch woher sollten wir wissen, in welcher der unzähligen nebeneinander existierenden Erscheinungsformen von Ursache und Wirkung wir gerade stecken? Ich mag meine Klara, weil sie diese Ausgeburt der praktischen Vernunft ist, die immer auf Nummer sicher gehen will, obwohl sie genau weiß, dass dies alles ihr überhaupt nichts nützen kann gegen ihren ärgsten Feind, den unvorhergesehenen Tod.

Der graue Mann, hatte eine andere Meinung vom Tod, die mir, brav gestanden, auch viel besser einleuchtet, als das, was unsere drei großen sogenannten monotheistischen Religionen über ihn zu berichten haben. Wiewohl es für den ärztlichen Berufsstand verführerisch sein mag, ihn sich personifiziert vorzustellen: seine Maßregelei vergällt uns die Kunst. Schließlich aber ist es durchaus angenehm, wenn sich der Abgesandte die Ehre gibt und die Mühe macht, einem aufzuwarten, vor der Reise ins Ungewisse. Es bleibt schlimm genug, dass gegen diesen Aufbruch aller Überlieferung nach jeder Widerstand zwecklos scheint. Bauern und Krämer, die das Gerippe unter den Tisch trinken, sind eine literarische Übertreibung. Auf der anderen Seite des Spiegels, in den Ausgeburten der Phantasie, müssen sie gescheitert sein, die es mit Argumenten versucht haben oder gar mit Geld. Wie auch immer, mein Freund, ich versichere ihnen, der Tod hatte schon damals nichts Endgültiges.

Das erklärte mir der graue Gast. Der Tod habe keine Bedeutung, waren seine Worte. Sein erklärtes Ziel sei es, dem Rad der Wiedergeburten zu entkommen. Er sehe das leibliche Vergehen nur als eine Art Vorstufe zu einer nächsten Existenz als Tier, Mensch, Gott, Baum oder gar als Stein vorher. Alles Leben sei Leiden, und was könne also folgerichtiger versucht werden, als dieses endgültig zu beenden, mithin nicht wieder geboren zu werden. Ein Gedankengebäude, dessen Keller und Dachboden mir vertraut waren.

Meine Erfahrung neigte dahin, dass Paradies und Hölle auf der Erde stattfänden, und ihre Zwischenstufen schwer voneinander zu trennen wären. Ich machte mir daher keine Mühe, weder das eine noch das andere zu leugnen. Wie der Graue sprach auch ich zu jener Zeit, die längst vergangen ist, der Welt die Bedeutung ab. Und ich bekenne, in meiner Vorstellung gab es einen Zustand, in dem sich die Welt aufgelöst haben würde, wenn nämlich der Zwang der Eigenheit, sich in ihr zu bestätigen und sie zu reflektieren, aufgehört hätte. Also war da von ungefähr Verwandtschaft.