Die Legende vom Unglauben – Folge I

Editorische Vorbemerkung:

Im Jahr 2010  hatte ich mich entschlossen, an einem bis dahin fragmentarisch gebliebenen Text aus dem Jahr 1992 weiterzuarbeiten, der sich mit einer von mehreren möglichen humanen Zukunftsvorstellungen auseinandersetzte, in der die Endlichkeit der physische Existenz des Menschen in doppelter Hinsicht bedeutungslos geworden wäre, ansonsten aber die gewohnten materiellen Spielarten und Regularien der Spezies  fortgeschrieben  sind. 30 Jahre nach dem ersten Ansatz dieser Dystopie sehe ich Anzeichen für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Gesellschaft auf die damals beschriebenen Tendenzen. Es wird neue Episoden der „Legende vom Unglauben“ geben, die hier folgen.

Wolfram Haack

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Meister: Wer heißt sie im voraus wissen, was eine schlechte Rolle ist und was eine gute?

Welt: Das weiß wohl jeder, der hineinsieht, wenn er Geschriebenes lesen kann! Viel befehlen und anschaffen, herrisch und gut leben, das große Wort führen, andere seine Macht fühlen lassen: Das ist eine gute Rolle. Stöß und Püffe hinnehmen, harte Worte hinunterschlucken, sich ducken, den Mund halten, wenn andere reden: das ist eine schlechte Rolle – so halten es die Menschen von Adams Zeiten an.

Aus:  Das Salzburger große Welttheater von Hugo von Hofmannsthal

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Vorwort – Der Herr hat nicht zugehört

So, so und so und dann wieder anders. Man kennt solche Leute ja. Und natürlich kann aus ihnen nichts werden. Aber wenigstens haben sie sich bewegt. In einem größeren Zusammenhang bewegen sie sich, den sie nicht spüren, der sie manchmal schlägt und manchmal lieb hat. Und sie sind es zufrieden, wenn es nur kracht. Ja, wenn du die Gewissheit, endlich zu sein, noch einige Jahre vor dir hast. Das ist eine schöne Zeitverschwendung.

Sie merken schon, mein Herr, ich spreche nicht von denen, die andere Sorgen haben, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden und sich Verdienste um die Menschheit erwerben können. Können sie das leichter als wir? Wer sind wir, diese Mutmaßung anzustellen? Aber es hilft ein wenig, wenn man auf etwas wartet, was einen weiterbringen könnte. Richtig bleibt nur der Erfahrungssatz, dass wir nichts wissen können, das wir nicht ausprobiert haben. In diesem Sinne haben wir die Wahl. Warum, mein Herr, sind sie schwach und ich bin stark oder umgekehrt? Und kommt die Hoffnung nur als Ausgleich für die Schwachen in der Welt vor. Oder hat die Hoffnung womöglich so ihre eigenen Qualitäten, mit denen sie, je nach dem, den Starken und den Schwachen zur Verfügung steht? Sie werden einwenden, der Starke brauche keine Hoffnung. Die Hoffnung wäre mithin den Elenden vorbehalten – eben doch als Ausgleich für alles, was wir mit Recht als schlecht verteilten Glücksvorrat bezeichnen dürfen.

Erstes Kapitel – Ein langes Leben – Erschlage keine Motte

Vor etwas mehr als zweihundertzwanzig Jahren, es war ein ungewöhnlich milder Mai, und die ersten Blüten der alten Kletterrose, die um den Eingang zu meiner Praxis ranken, sprießten üppig, trat während der Mittagszeit ein gebildet aussehender älterer Herr in das Entrée meiner Landarztpraxis. Für gewöhnlich halte ich Mittagsschlaf und schließe deshalb um zwei bis drei Stunden die schwere holzgetäfelte Tür zu den Behandlungszimmern ab. Bei einer dringenden Sache muss man nur laut genug daran pochen, und ich bin im Nu bereit.

An jenem Tag im Mai aber, hatte ich noch Schriftliches wegen einer Erbschaft zu erledigen, die mir unverhofft ins Haus geflattert war. Die vornehme alte Elisabeth, deren drei Kindern ich sämtlich in die Welt geholfen hatte, hinterließ mir einen guten kleinen Acker oder eher Garten, von dem zu ihren Lebzeiten für mich das herrlichste Gemüse herkam. Oft wollte ich ihr Kohl, Karotten, Zwiebeln, Lauch und all die anderen dankbaren Pflanzen bezahlen, doch die Frau des alten Bürgermeisters ließ es niemals zu. Damit ich nach ihrem Tod versorgt bliebe, erbte ich demnach den kleinen Acker. Sehr zum Missfallen ihres Zweitältesten, Walter, der das Stück fruchtbaren Grundes dem Pfarrhaus für eine ansehnliche Summe zu verkaufen gedachte. Die katholische Gemeinde wollte an einer Stelle, wo jetzt ein größeres Beet Brassica oleracea war, eine Marienkapelle errichten. Vor dem vorvorletzten großen Krieg hatte an genau derselben Stelle schon eine gestanden. Sie war in den letzten Wirren verschont geblieben aber nach einem Unfall im Jahre 1956 auf Verordnung des kommunistischen Bürgermeisters abgerissen worden. Er selbst hatte, weil er die soliden Balken des Daches lieber als Bedeckung für die Jauchegrube der LPG-Schweinemast verwenden wollte, eine Inspektion des kleinen Dorfheiligtums vorgenommen, zu keinem anderen Zweck, als die Marienkapelle der verblendeten Gottesanbeter für baufällig zu erklären und dem Rat des Kreises ihren Abriss anzuempfehlen. Während seiner Besichtigung mit einem Vertrauten und dem alten Pfarrer der Gemeinde begann, für alle zunächst unerklärlich, die Erde zu beben. Ein Sparren löste sich aus dem Dachgebälk und schlug dem Atheisten dermaßen auf den rechten Fuß, dass dieser auf der Stelle Brei war. Mein Vorgänger, dem man den jammernden Roten in das Behandlungszimmer brachte, erkannte sofort seine begrenzte ärztliche Macht und ordnete an, man möge den Schwerverletzten ohne Verzögerung ins Krankenhaus der Kreisstadt transportieren. Doch dieser weigerte sich und tat den eigenartigen Vorfall mit zusammengebissenen Zähnen seinen Schmerz unterdrückend vor aller Welt als eine Lappalie ab. Er lag vier Tage winselnd bei seiner zweiten Frau im Bette; doch all ihr Zureden half rein gar nichts. Schließlich entzündete und vereiterte sich der Brei, und der noch von den Russen eingesetzte Bürgermeister drohte an der Vergiftung zu sterben. Schon ohne Bewusstsein brachte man ihn gegen seinen erklärten Willen doch in das Krankenhaus der Kreisstadt, wo die behandelnden Ärzte nun das ganze, schwarz angelaufene Bein unterhalb des Oberschenkels amputierten, um sein Leben zu retten.

Ein halbes Jahr später, als der stattliche Mann, kaum genesen, auf seiner noch ungewohnten Beinprothese ungeschickt zur Erledigung seiner Pflichten in den Rat der Gemeinde eilte, sprach ihn ein Dorfbewohner wegen des Ausgleichs für die Flurschäden durch ein Panzermanöver an; und dem vergrämten Bürgermeister wurde zu seiner Verzückung klar, dass nicht Gottes Wille, sondern das russische Militär, Schuld war an seinem Unglück. Als er dem Tode knapp entronnen in der Stadt aus der Narkose erwachte, waren in ihm schleichend und immer bohrender Gedanken aufgestiegen, sein Unglaube habe ihn soweit gebracht. Jetzt, wo er erst durch die Ausübung seiner Pflichten von dem Manöver der russischen Brüder erfuhr, fühlte er sich wieder vollends sicher und beschloss, den Kampf gegen die Kirche und diesen Gott, dem er, falls es ihn doch geben sollte, nur Unordnung zutraute, in gewohnter Härte fortzusetzen. Elisabeth, seine zweite Frau aber, versäumte keinen Rosenkranz.

Dies erzähle ich ihnen, werter Herr, und schreibe es für sie nieder, während hier außerhalb der Schutzhülle um mein altes Wohn- und Gewächshaus (Baujahr 2067) die neuen Unkräuter mannshoch und darüber blühen und der schlimme Wind ihren Samen überall dorthin trägt, wo vor dem großen Ereignis die Landmaschinenautomaten der EGT (European Genetic Trust) ferngesteuert Genmaisfelder düngten oder niederbrannten, je nach Marktlage. In diesem Moment muss ich mich unter meiner Glocke zwingen, bei der Erinnerung an den bestialischen Gestank der brennenden Felder, nicht wehmütig zu werden. Ich schicke ihnen aus meinem privaten Archiv einige alte Bildformate mit Außenansichten (!) von unserem gewesenen Dorf. Es handelt sich um sogenannte binäre Daten. Falls sie nicht in der Lage sein sollten, diese zu entschlüsseln, werde ich ihnen einen der lustigen alten Codes übermitteln, die sie aus rechtlichen Gründen aber jeweils nur 4 Nanosekunden lang benützen dürfen. Eigentlich ist schon die Weitergabe dieser antiquarischen Schlüssel nicht ganz koscher. Es wäre schön, wenn sie die alten Bilder anschauen könnten. Vieles, was ich sonst umständlich erklären müsste, würden sie auf Anhieb verstehen beim Betrachten dieser untergegangenen Epoche.

Doch zurück zu dem besagten kühlen Tag im Mai. Plötzlich stand er neben mir am Schreibtisch meines kleineren Ordinationsraumes. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine doch, dass die getäfelte Tür geschlossen geblieben wäre, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass es diesen Windhauch gegeben hätte, mit der sie sich für gewöhnlich zu rühren pflegte, wenn der nächste Patient eintrat.

Er stand einfach im Raum. Über dem grauen, einer Sutane ähnlichen Überwurf, reichte seine lange, ebenfalls graue Mähne knapp bis zu den Schultern. Er hatte ein jung gebliebenes Gesicht, aus dem die dunkelbraunen Augen milde und respektgebietend auf mich blickten, ohne meine Aufmerksamkeit direkt zu suchen. Ein gepflegter Heiliger einer mir unbegreiflichen Konfession.

Er selbst benahm sich andererseits äußerst normal. So als hätten wir schon einige Worte der Begrüßung gewechselt und könnten nun gleich zur Sache kommen, erklärte er mir, er sei hier, um den letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters zu erfüllen, der vor seinem Tod zu einem großen Verehrer der Jungfrau Maria geworden war. Seine Stiefmutter Elisabeth die, so fuhr er fort, seinem leiblichen Vater im Abstand von anderthalb Jahrzehnten gerade ins Grab gefolgt wäre, hätte ihm in einem kurz andauernden Briefwechsel nach Übersee, wohin es den grauen Heiligen aus mir noch unbekanntem Grund verschlagen haben musste, dringend aufgefordert an seinem Geburtsort eine Marienkapelle zu errichten. Er wolle dem letzten Willen seines Vaters, mit dem er zu Lebzeiten wenig gemein gehabt hätte, nun erfüllen. Darum, und weil er jetzt auch durch die Erbschaft in die Lage versetzt wäre, seiner Stiefmutter zu gehorchen, sei er hierher gekommen, um seine Sohnespflicht zu erfüllen. Er wäre zwar, fügte er hinzu, im Laufe seiner Abwesenheit durch die Sitten und die Religion seiner Wahlheimat im Herzen tief berührt worden und daher kein Katholik mehr, aber der letzte Wille eines Verstorbenen gelte gemeinhin wohl überall auf der Welt das Gleiche.

Während der Schilderung über die verschiedenen Stationen seiner ausgedehnten asiatischen Wanderschaft, vermochte ich, der ich mit Ausnahme meiner Studienzeit fast mein gesamtes Leben und gern mit meinem Beruf in unserm Dorf zugebracht hatte, ihn nicht zu unterbrechen, um ihm die wenigen Fragen zu stellen, die man einem Menschen meistens stellt, wenn man überhaupt nicht mit ihm bekannt ist. Noch dazu, wenn er einem auf eine solch sonderbare Art und Weise zum ersten Mal begegnet und man die Endlichkeit vor Augen findet. Damals waren wir noch automatisch sterblich. Außerdem stellte sich, als er wiederum auf die Erbschaft der Bäuerin zu sprechen kam, eine wunderliche Verwandtheit zwischen mir und meinem unbekannten Gast heraus: Für den Fall nämlich, dass derjenige, welcher das erste Anrecht auf ein im Testament der Bäuerin genau bestimmtes Stück Land hatte, die Erbschaft ausschlagen würde, sollte der heimkehrende Stiefsohn dort bauen. Und dieser, der das erste Anrecht hatte, und also zu verzichten hätte, war niemand anderes, als ich. Und die beschriebene Stelle keine andere, als mein Gemüsegarten. Es war mir gleich, denn damals konnte ich mich mit Gartenarbeit überhaupt nicht anfreunden. Wegen unserer durch die Vorkehrungen der alten Elisabeth erwachsenen Gemeinsamkeit konnte ich selbstverständlich nicht umhin, meinem Gast, denn als solchen empfand ich ihn, sobald er mir so freimütig von seinen Reisen erzählte, von den Begehrlichkeiten seines Stiefbruders zu berichten, und wie dieser meiner Ansicht nach schon im Stillen auf die beträchtliche Summe gehofft haben mochte, die ihm gewiss vom Pfarrer in Aussicht gestellt worden war. Dabei wäre es doch nach jeder Rechnung immer auf das Gleiche hinausgelaufen: Die Kapelle würde an alter Stelle wieder errichtet werden.

Erstveröffentlichung 2010
Alle 9 Folgen