Man wird vielleicht nicht geneigt sein die Klasse der Irrtümer, für die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich oder besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu bedenken, ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren Urteilsirrtümer der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen. Sigmund Freund, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, X. Irrtümer
Ben und Juno
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er ist von der Leiter gestürzt und hat sich das Genick gebrochen,“ hauchte er ihr ins Ohr. Sie saß halb aufrecht an einen Stapel bunten Kissen gelehnt, den ihr blauer Plüschelefant krönte und gähnte ungerührt in den Rokkokorahmen aus Styropor an der Fußseitenwand. Auf der ultraflachen Folie im Rahmen lief ein Beitrag über die Gewinnerin des „Balkony Vegetables Award“ im Kiez-News-Kanal KiezChanalONE. „Du pirschst dich völlig unnötig an. Ich habe Kopfschmerzen.“ Er versuchte es mit Ohrläppchen knabbern. Sie kicherte, „ach lass jetzt mal, ich möchte das sehen. Oder du erzählst mir von dem alten Zausel auf der Leiter.“ Das Close Up der glücklichen Gewinnerin war wie durch eine Kippschalterblende vom Display verschwunden. Die changierenden Muster der den Rokokorahmen umgebenden Schlafzimmertapete zierten das Display: 21, 22, 23 – eine Werbung pries die Unentbehrlichkeit eines patentierten Balkonbewässerungssystems an, welches Schnellentschlossene für schlappe 12.000 Taler in der örtlichen Warenausgabestelle bitte selbst abholen möchten. Tapete: 21, 22, 23 – eine beliebte Public Information Managerin mit beachtlicher Oberweite erklärte die aktuellen Wasserpreise. „Du bist süchtig“, sagte er in feststellendem Tonfall, „darum ziehst du dir diesen absoluten Schrott rein.“ – „Die Umsonstkanäle haben einen allgemeinverständlichen wahren Kern, Herr Wachtmeister.“ – „Uuhf, du suchst Streit?“ Sie antwortete mit einem Gähnen. Er stand plötzlich auf und wollte pinkeln gehen. Dann überlegte er es sich spontan anders, schlüpfte in die Hosen, die an seiner Seite vor dem Bett lagen. Der Reißverschluss seiner marineblauen Joggingweste sang eine kurze gekränkte Koloratur und im nächsten Moment schlug die Wohnungstür zu. „Auch gut“, seufzte sie. Dann befahl sie: „Ton aus.“
Der Auflauf
Der morgentliche Verkehr vor der Ökobäckerei war zum Stillstand gekommen. Im Straßenengpass einer kleinen Halbinsel der verkehrsberuhigten Nebenstraße hatte sich eine Traube mit Sensationslustigen gebildet, die in mehreren Sprachen die unmittelbaren Auswirkungen eines lange virulenten Machtkampfs zwischen einer Kleintierhalterin und einem mittellosen Straßenfreiraumbewirtschafter kommentierten. Die Frau war eine kiezbekannte Sexarbeiterin, deren Alter man wegen der konsequenten und regelmäßigen Investition in die Schönheitsreparaturen ihrer Fassade schwer schätzen konnte. Ihre Konjunktur hatte nach allgemeiner Auffassung jedoch den Scheitelpunkt bereits überschritten. Aber in besseren Zeiten war ihr die Beletage des Gründerzeithauses zugefallen, wo sie lebte und arbeitete, seitdem ihr letzter Agent unter bis heute ungeklärten Umständen aus dem Leben geschieden war. Ihrer Spezialität seien Rollenspiele, erzählte man sich beim Kaffee und überlegte, wer sie mal beerben würde. Sie nannte sich Hedy und war auch Skorpion. Ihr 14 jähriger Cihnchilla, der von einem Spatenschlag niedergestreckt in einer Blutlache auf dem großblättrigen, von einer Pilzkrankheit befallenen Laub einer Einlegegurke ausgestreckt lag, hörte normalerweise auf den Namen McCarthy. Hedy hatte dem Straßenfreiraumbewirtschafter, der über ihr im zweiten Stock zur Miete wohnte, die Mordwaffe entwunden und drohte mit dem Gartengerät wiederholt, ohne das weiteres Blut geflossen wäre, zunächst gegen seine Weichteile und dann gegen sein graumähniges Haupt. Der Mann sah ein, dass er etwas Unrechtes getan hatte und sank vor Hedy oder mehr noch vor den Zuschauern winselnd auf die Knie. Schließlich konnte man nie wissen, ob nicht eine Murdoch-Drone vor der Dachkante summte. „Wie fühlen Sie sich und was werden sie jetzt tun?“ Otto, der kleine Reporter des Kiezkanals, der auch im Winter Sandalen ohne Socken trug, kam aus der Ökobäckerei geschlendert. Seinen Morgenkaffee im Pappbecher balancierend stellte er die Interviewfrage mehr, um dem Image des Reporters zu genügen. Er hatte nicht nur kein Equipment dabei. „Ach schon gut. McCarthy war alt und hatte Asthma,“ blaffte ihn die Geschädigte an. In der Menschentraube wurde übersetzt. Ein Lieferant, der schon ewig hupte, ließ den Motor im Leerlauf heulen. Die Traube löste sich kopfschüttelnd über soviel Herzlosigkeit gegen die geschundene Kreatur, die auf Gurkenblättern in ihrem Blute lag, auf. Eine ältere Dame mit echten Perlenohrringen bedauerte, dass es in der näheren Umgebung keinen einzigen asiatischen Imbiss mehr gäbe. Ohne Bild und Tonmaterial war das Ereignis dem Kiezkanal immerhin eine bunte Meldung in den Mittagsnachrichten wert: McCarthy ist tot. Hedys kleiner Nager, der wegen seines Asthmas zuletzt oft sehr heiser gewirkt hat, wurde heute Morgen von Schlappen-Jürgen, dem ersten Preisträger des letztjährigen Balkony Vegetables Award mit einer grünen Gartenschippe der Marke ‚happygarden‘ erschlagen. Wir von KiezChanalONE meinen, Jürgen sollte Hedy dieses Jahr seine ganze Gurkenernte als Wiedergutmachung zahlen, auch wenn Hedy unbestätigten Berichten zufolge sowieso vorhatte, McCarthy einschläfern zu lassen. O-Ton Jürgen: „Das Problem is nur, dass da nich eine Einlegegurke mehr wachsen tut. Der verdammte Pelzkragen hat meine schöne Gurke erst abgenagt und dann totgepisst. Ick hab doch selbst nicht jenuch zu Fressen.“ – „Tja Hedy, tröste Dich. Die Sauregurkenzeit kann nicht ewig dauern“, kommentierte der Moderator spontan und sprach sich damit insgeheim selber Mut zu.
I’m not that Child
Ariel war fast 40, Lehrer und fuhr mir dem Fahrrad zur Schule. Die Mappe, mit den 32 kläglichen Aufsatzversuchen darin, baumelte an einem ledernen Tragriemen, der einen rosaroten Striemen in seinen Hals schnitt, über seiner rechten Schulter anstatt, wie vorgesehen, etwas oberhalb des Gesäßes die empfindsamen Nieren zu bedecken, die ansonsten nur noch ein graues T-Shirt mit einer 10 über der leichten Bauchwölbung und einem riesigen X auf dem Rücken beschützte, sowie ein gepflegtes aber altes waidblaues Jackett – halb Seide halb Leinen, das oft bedenklich im kühlen morgendlichen Fahrtwind flatterte. Ariel hatte dem israelischen Wehrdienst den deutschen Schuldienst vorgezogen und korrigierte Rechtschreibung und Interpunktion entgegen der Vorschrift mit einem goldenen Paintballkuli.
Lisbeth, das 17 jähriges australisches Mädchen mit den dicken braunen Haaren, die beste Schülerin in seinem Deutsch-Leistungskurs, ist nach mehreren geheimen Liebesnächten von ihm schwanger. Als ihre Leibesfrucht unübersehbar wird, treffen sich beide in einer blaue Stunde. An dem kleinen etwas abseits liegenden Cafèhaustisch vor der Ökobäckerei tuscheln und lachen und erwägen sie gedämpft die Zukunft, ihre, ob sie gemeinsam werden wird, und die der kleinen Elsa, die in Lisbeth wächst.
„Sie heißt auf jeden Fall Elsa“, sagte Lisbeth und band ihre dickes braunen Haar hinter sich mit ein paar bunten Schnippgummis zu einem Pferdeschwanz. „Mein lieber Schwan, klingt irgendwie ziemlich germanisch“, witzelte Ariel. Lisbeth kam ihm plötzlich vor wie ein Kind und er malte sich aus, was man über Lisbeth und ihn denken würde. „Wenn Elsa da ist, werde ich 18 sein“, sagte Lisbeth, als hätte sie seine Gedanken lesen können. „Wir sollten Heddy und Jürgen fragen, ob sie nicht Taufpate werden wollen“, schlug Ariel in künstlich sachlichem Tonfall vor, „und meine Schwiegermutter laden wir aus.“ – „Elsa soll sich das selber aussuchen, ob oder an was sie glaubt. Kindstaufe kommt nicht in Frage“, erwiderte Lisbeth. Gerade hatte sie genug davon, dass Ariel sie mit seiner Witzelei aufmuntern wollte. Es gab nämlich keinen Grund zum Aufmuntern, Lisbeth fühlte sich ganz gut, sogar mit der Stimmungsschwankung in der Schwangerschaft kam sie zurecht, besser als sie befürchtet hatte. nachdem ihre Mutter ihr wieder und wieder vorgekaut hatte, was sie selbst für Stimmungsschwankungen hatte, als sie mit Lisbeth schwanger ging.
Ihre Mutter war zwar noch deutlich älter als Ariel, aber eines hatten sie gemeinsam: dass sie ihr nicht zutrauten, mit der Situation klar zu kommen. Diese Mischung aus lauter Sorge, immer noch über sie bestimmen wollen, als sei sie ein Kind, und dem demonstrativen ‚Alles wird Gut‘ Gerede, ging Lisbeth bei beiden fürchterlich auf die Nerven. Ihre Mutter hörte nicht auf, Liesbeth nach den Namen des ‚Erzeugers‘ zu löchern. Wenn Lisbeth bei solchen Gelegenheiten ganz erwachsen argumentierte, fand sie sich selber albern, denn sie fühlte sich als Kind, als Schülerin, als Gott sei Dank überhaupt noch nicht so erwachsen. Und gleichzeitig fand sie sich viel weniger kindisch, als ihre Mutter wirkte, wenn sie das Wort ‚Erzeuger‘ benutzte.
Lisbeth war nicht die einzige, die als Teenager ein Kind erwartete. In der Schule gab es noch zwei Mädchen, eine hatte schon mit 15 ihr Kind bekommen und ging weiter zur Schule. Der Vater war bekannt – ein gleichaltriger Schüler, der inzwischen schon wieder eine andere Freundin hatte. “Alle scheinen das normaler zu finden, wenn das Mädchen den Vater irgendwie blöd und verantwortungslos finden kann“, überlegte Lisbeth laut. Darum hatte sie bisher standhaft Ariels Vaterschaft verschwiegen. Und dem schien das ganz lieb zu sein, wenn sie diese Show weiter abzogen, bis das Kind da war und die Lisbeth offiziell volljährig. Das machte Lisbeth jetzt traurig, aber man merkte es ihr nicht an. „Du könntest doch schon mal anfangen, eine größere Wohnung zu suchen. Deine ist für das Baby und mich zu klein. Meinst du nicht auch, Erzengel?“
Fortsetzung folgt.....vielleicht aber auch nicht.....