Auf welche Weise wir Spielräume verteidigen…

…und dabei nicht selbstgerecht werden:


Am 30. September 2011 pflanzte ich mit Freunden nahe der Nordsee einige Apfelbäume. Ob sie Früchte tragen? Einige Menschen aus dieser nahen Vergangenheit, die dabei waren, sind inzwischen gestorben. Anderen sehe ich nicht mehr.

Häufig hatte ich in diesem „neuen Jahrtausend“ den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft über vieles nicht mehr gesprochen wird. Nicht, dass es nicht ginge. Aber es ist irgendwie schleichend die Erfahrung verloren gegangen, wie wir das Miteinander bewerkstelligen, ohne einen vielleicht vergifteten Konsens vorauszusetzen. Ist das nur meine persönliche Sicht?

Wie viele dachte auch ich ganz unaufgeregt an die Arbeit die jetzt vor uns liegen würde: Nun ist der kalte Krieg in den Blöcken, Ländern und den Köpfen schon eine Weile zu Ende. Die blockierten Kräfte und Ressourcen sind wieder frei, um alte Menschheitsgeiseln so entschlossen abzuschaffen, wie „den holden Blick des Künstlers“. Auch der hat sich mancherorts wieder eingeschlichen. Was soll’s. Im Interesse des Fortschritts müsste es doch möglich sein, Meinungen auszuhalten, keine neuen Barrikaden zu errichten und dem Starrsinn zu entsagen. Nun, das haben wir die letzten Jahrzehnte doch geübt – deshalb und weil wir viel Glück hatten, dass noch zuvor ein paar Individuen in einem entscheidenden Augenblick über Freund und Feind hinweg richtig entschieden haben, steht die Welt doch überhaupt noch.

Was wir auch schon mal wussten: Wenn Regeln für eine progressive Entwicklung aufgestellt werden, ist es weniger wichtig, dass jede, bisher noch so unberücksichtigte Interessengruppe, sofort ihre Exegese dieser Regeln in ihren eigenen Alternativlos-Schrein stellen kann und andernfalls nicht mehr mitredet oder den heiligen Krieg erklärt, als dass möglichst viele den Konsens bestätigen und sich daran halten. Kurz: Wir fahren nun mal auf der einen Seite. Praktisch, sinnvoll und wünschenswert wäre, wenn sich das auf dem Bürgersteig und dem angrenzenden Radweg fortsetzte, aber so ist das leider nicht oder nicht überall. Dennoch halte ich für äußerst bedeutsam, dass bei dem Vorhaben Gemeinschaft miteinander und nacheinander statt übereinander und durcheinander geredet wird. Und wenn es ohne Verkehrsschilder und Moderation nicht geht, ja Gott, dann dürfen – atavistischer Praxis zum Trotz – nur stark limitiert die Böcke zu Gärtnern avancieren oder, um im Bild zu bleiben, SUV-FahrerInnen über Parkraumbewirtschaftung bestimmen.

ModeratorInnen sind immer rar aber können mit entsprechendem Mehraufwand gefunden werden, solange sich keiner der vielen kleinen und großen Meinungskriege verselbstständigt und keiner der MeinungskriegerInnen unwidersprochen behaupten darf, allein selig zu machen. Heute muss schon wieder hinzugefügt werden: Worüber in einer Gesellschaft gesprochen wird, darf weder von Marktschreiern noch von maskierten Interessenvertretern bestimmt werden. Wir sollten Meinungsbildner abwählen, die mechanisch und immer wieder Ausgrenzung in den Prozess induzieren. Auch muss klar sein, das aus Meinungsbildung nicht zwangsläufig sofort eine glitzernde Zukunft resultiert. In der Folge ist entscheidend für die Mehrheit – für jede und jeden und auch für die am Meinungsbildungsprozess beteiligten ModeratorInnen, dass bestehende verbindliche Regeln ergänzt oder gar durch neue verbindliche ersetzt werden müssen. Sonst stockt der Prozess und alle Anstrengung war vergebens.

Das allein macht schon die ungeheure Verantwortung der Multiplikatoren für jedes Wort, für jeden Satz, für jeden zu erläuternden Zusammenhang aus. Sicher, es wird immer das Machbare herbeigeführt und nicht das allein Beglückende, deshalb wollen wir uns ja bessern. Aber die Befolgung vereinbarter Regeln erlaubt erst das Machbare. Was wir darüber hinaus wünschen, ist wiederum zu verhandeln. Klar, das ist mühsam und für eine gerechtere Gesellschaft reicht es immer noch nicht. Aber jeder zeitweilig schwer errungener Konsens ist besser als der Krieg, der nur mit einem Siegfrieden enden darf. Davon bleiben nur Erschöpfung, Destruktion und Misstrauen.

Wir dürfen nicht den kleinsten Spielraum für Verhandlung und Vermittlung ignorieren.

Nachtrag:
Ich bekam den Hinweis, dass der Beitrag hier sehr allgemein gehalten sei. Das ist bestimmt der Fall. Allgemein gehalten, damit es grundsätzlich werden kann- als maximale und minimale Hypothese (für mehr als einen Fall), bei dem ich mich der eigenen Grundsätze gerne nochmal vergewissern darf, bevor ich eine Meinung habe. Das war damit auch noch gemeint; die Anwendung kommt danach und die Einordnung, was vergleichbar ist und was eben nicht. Mich (wen nicht) ärgert die geringe Halbwertszeit der Prinzipien von Menschen, die die Macht haben, Ihre Meinung zu multiplizieren. Solche, die selbst eingestanden untereinander kommunizieren wollten, sich offenkundig aber öffentlich Duelle liefern, bis einer beleidigt ist und die mühevolle Kommunikation unter Vorwänden ersterben kann. Die Kommunikation beruhte wahrscheinlich von vornherein auf einem vergifteten Konsens. Das ist das Modell. Mehr ist da nicht. Den Gegner vorführen, behaupten, dass der nicht mit einem redet oder eine Grenze überschritten hat etc.

Das ist der sichtbare Teil von „öffentlichem“ Diskurs, dem die Massen in den Vollrausch und die asozialen Netzwerke fliehen. Völlig fruchtlos (zumindest die Netzwerke). Beliebter Bestandteil dieser Kommunikation ist das affektierte „Eingeständnis“ von Funktionsträgern (früher hieß das Selbstkritik und war aus anderen Gründen genauso folgenlos für den vorgeblich angestrebten Wandel zum Besseren): Besserung geloben, den selbst verbockten Mist anderen in die Schuhe schieben oder bis zur Bedeutungslosigkeit relativeren, abschließend besonnenes Handeln von den Anderen fordern, usw. Die Mühe der Affirmation offenbart mindestens den Konsum einschlägiger Verhaltenstherapien (vom Grabbeltisch der Medienmacher). Importe einer bloß nicht radikalen Reparaturindustrie, die noch Profit generiert aus dem offensichtlich exponentiell zunehmenden Irresein verzweifelt selbst optimierter Individuen in einer völlig asozialen Gesellschaft.  Es gibt so wenig gute Schauspieler dieser Tage. Wo ich auch hinschaue, ich und nicht nur ich erkenne das unheimliche Knödeln der Selbstdarsteller – zu Karrierebeginn dumm und selbstverliebt, beim Abgesang  steif vor Entsetzen, obwohl sie gar kein Rückgrat mehr haben. Nicht verwunderlich, dass die nur Sülze können. Wir alle haben das Gesülze satt. Wir  alle haben satt, dass bezahlte Meinungsbildner bis zu unserer nächsten Fütterung allgemeine Prinzipien verschleudern. Da gibt es nichts mehr zu reparieren und selbst zu optimieren. Dann lieber ein Trump, meint Otto N., der kann immerhin Auftritt. Irgendwer, der Brot und Spiele verspricht, und wenigsten Spiel auch mal halten kann.